Die folgende Geschichte war in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts in aller Leute Mund und wurde allgemein für wahr gehalten. Der Sammler dieser Sagen hat im Januar 1912 den Vater des entführten Kindes, einen ernsthaften Mann, der sonst die meisten Sagen ins Reich der Fabeln und des Aberglaubens verweist, befragt, und ebenso im August 1913 dessen Sohn, also den Bruder des Kindes, einen gewissenhaften, nüchternen, 50jährigen Mann, und beide haben die Sache fast mit den nämlichen Worten übereinstimmend dargestellt.
Wir erzählen hier mit den Worten des Sohnes:
Es war im Mai 1879. Ich war damals 15 Jahre alt, und wir waren im Stäfeli zu Niedersurenen. Der Wyseli war damals im dritten Jahre. Er war ein schwächliches Kind und besonders zu jener Zeit recht kränklich. Er trug noch den Rock, konnte nicht gut reden. Vater und Mutter arbeiteten in einiger Entfernung von der Hütte im Garten. Eine Schwester war beim Wyseli und den andern Kleinen zurückgeblieben. Sie spielten miteinander vor unserer Hütte. Als die Eltern heimkamen, fragte die Mutter in der Stube, wo der Wyseli sei, und die Schwester sagte: »Grad etz isch er dussä gsy vor d'r Hittä.« Sie wollten ihn holen, fanden ihn aber nirgends. Da suchten sie mit den Nachbarn am Bache und überall, so auch am folgenden Tage. Am Nachmittag sagte dann der Vater zu mir: »Ich müess uf Altdorf gah und'm la lyttä. Gang z'ersch ga d'Schaf holä, aber chumm de nitt bi d'r Stygi appä, chumm dü by dä Spychärä-n-appä!«. Wir hatten auch zu Messen versprochen. Ich ging. Bei der Stygi erblickte ich die Schafe, und als ich in die Nähe kam, etwas ausserhalb der Stygi, sah ich auf einmal mitten im Steingeröll am stotzigsten Ort, eine kleine Strecke unterhalb des Felsens, den Wyseli stehen vor den Schafen. Ich ging rasch auf ihn zu und nahm ihn auf meinen Rücken. Er sagte mir: »Da sind Stei appätrohlet!« Mit ihm stieg ich nun doch die Stygi hinunter, einen schmalen, sehr schlechten, steilen Pfad, zu unserer Hütte im Stäfeli. Heute noch könnte ich die Stelle genau zeigen, wo der Wyseli gestanden. Daheim untersuchten wir ihn. Er war ganz trocken, obwohl es die ganze Nacht geregnet hatte. Über seine Füsse lief eine Schneckenspur. Er verlangte Milch und sagte, er habe Hunger. Einige Tage später sagte er: »Ä Ma het mi g'nu. Miär sind scho g'gangä!« Längere Zeit hindurch wollte er nicht mehr ins Freie. Er hatte Angst und schaute noch lange mit Zeichen des Schreckens gegen die Stygi hinauf. Seitdem wurde der Wyseli stärker und kräftiger. Er ist jetzt ein gesunder, starker Bursche. Er weiss nichts. Wir haben ihm nie etwas gesagt.
Michael Walker, Altdorf
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.