Der Glaube ist in Uri stark verbreitet, dass sich tötliche Unglücksfälle, namentlich solche, die sich beim Holzfällen im Walde, beim Streue- und Wildheusammeln ereignen, durch Lichter voraus »künden«.
1. Es war im Herbst 1895, dass die Unterschächener im Walde ob Schwanden abends spät mehrere Lichter wollten herumschwirren sehen. Wenige Tage später fielen dort zwei Brüder Schuler über eine Fluh zutode, und am Abend holte man beim Schein der Laternen die Leichen. Diese Laternen machten nun ganz die gleichen Bewegungen wie die Lichter an jenem Abend.
Vielleicht ein Jahr später sah man eines Abends von Spiringen aus Lichter gegen den steilen, felsigen »Hängst« hinaufsteigen. Da sagte eine gebildete Person in offenbarem Schrecken zu mir: »Entweder ist ein Mensch verunglückt und wird gesucht, oder es wird binnen kurzem dort ein Unglück geben.« Das erstere war der Fall.
2. Vor wenigen Jahrzehnten geschah es, dass die Leute von Erstfeld zu nächtlicher Zeit in der Reusslaue im Wald mehrere Abende nach einander ein unerklärliches, geheimnisvolles Licht beobachteten, das hin und her lief. Einige Tage später ging daselbst ein Weibervolk in die Streue und wurde dabei von einem herabrollenden Stein erschlagen und seine Leiche am Abend beim Schein der Laterne gesucht und aufgefunden.
Mitget. von Pfarrhelfer Ant. Baumann
3. Vor etwa vier bis fünf Jahren sah ein Eisenbahnarbeiter von Erstfeld mehrere Morgen nacheinander, wenn er noch bei der Dunkelheit an seine Arbeit ging, droben im Bocki ein Licht hin- und herschwirren. Nach einiger Zeit wurde daselbst ein Holzarbeiter von einem fallenden Baum erschlagen.
Fr. Aschwanden-Gisler, 1921
4. Das war im Isental. Zwei Jahre nacheinander sah ich zur nächtlichen Zeit an einer bestimmten Stelle im Walde am Abhang des gegenüberliegenden Berges ein Licht. »Was soll auch das bedeuten?«, sagte ich öfters zu den Meistersleuten, die es nicht sahen. Aber sie lachten mich aus. Da machte sich eines Sonntagmorgens früh der Geissbub auf den Weg, indem er sagte, är well nu i ds Derfli gah, är miëss ga d'Andacht machä. Die Leute wollten es ihm ausreden: »Channsch ja de am Fyrtig gah.« – »Näi, är gaï jetz hit.« – Und er ging zu den heiligen Sakramenten. Am folgenden Montag fiel er über eine Fluh zutode, und von jener Stelle, wo ich das Licht gesehen, trugen sie ihn tot weg.
Fr. Gisler-Zwyssig, 68 J. alt
5. Wo jemand eines gewaltsamen Todes stirbt, z.B. beim Holzen, Wildheuen, da haben die Leute gewiss schon lange vorher ein nächtliches Licht gesehen. Ganz besonders ist dies der Fall, wenn auch die Leiche bei nächtlichem Lichterschein gefunden oder geborgen wird. In diesem Falle hat dann auch das kündende Licht gewöhnlich dieselben Bewegungen gemacht, wie das Licht der bergenden Leute.
6. »Eines Abends spät kam ich aus der Kirche nach Hause. Es war dunkel und weder Mond noch Sterne leuchteten. Eine kleine Strecke unterhalb des Hauses sah ich ein Licht in unserer Stube, das bald in das Stübli hinüber wanderte. Ich dachte, es sei die Mutter. Als ich das Haus betrat, war niemand da, und die Mutter kam erst eine Weile nachher aus der Kirche. Ich erzählte ihr, was ich gesehen, und wir konnten uns die Sache nicht erklären. Einige Tage später starb unsere Nachbarin in der Rebgruobe und ihre einzige Tochter, die wieder in einen Dienst treten musste, bat uns, wir möchten für sie während des Dreissigsten das Öllichtlein, Dreissigstlichtlein genannt, in unserm Hause brennen lassen. Wir erfüllten ihr die Bitte und unterhielten das Lichtlein, das bald in der Stube, bald im Stübli aufgestellt wurde.«
Fräulein Muheim, Schattdorf
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945,
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.