Die Blutbuche bei Buch am Irchel
Im Gebiet der Gemeinde Buch am Irchel befindet sich auf dem niederen Stammberge eine stattliche Blutbuche, die zu den interessantesten Baumgestalten Europas gehört. Ihre Eigenart liegt darin, dass im Frühling, zur Zeit des Himmelfahrtstages, das zarte Grün der Blätter in eine leuchtendes Rot übergeht, das dem Baume ein auffallendes, fast magisches Aussehen verleiht. Um Pfingsten färbten sich die Blätter neuerdings grün, und von nun an heben sich diese vom Buchenwald der der Umgebung nur noch unmerklich dunkler ab.
Von dieser Buche erzählt man sich folgende Begebenheit: In einer schweren Hungerszeit starb alles weit und breit bis auf drei Brüder. Die nährten sich kümmerlich von Wurzeln. An einem Frühlingstage erhaschten sie eine Maus, die sie zu verzehren gedachten. Nach langem Streite einigten sie sich, dass der jüngste der Maus das Blut aussaugen, die beiden andern das Fleisch geniessen durften. Aber der erste fuhr mit der Maus so hastig an den Mund, dass sie ihm die Halsröhre hinabrutschte. Er starb daran. Der Hunger riss die andern hin, den Leichnam zu verzehren. Einige Tropfen des noch warmen Blutes besprengte dabei die Blätter einer jungen Buche. Bald hernach bereuten die Brüder ihre Tat, so dass sie an derselben Stelle zu sterben beschlossen Ein Jäger fand sie und erfuhr aus ihren letzten Worten ihr Schicksal. Man bestattete sie rund um den Buchensprössling, an welchem die Bluttropfen klebten. Im Frühjahr sprossen noch zwei weitere Buchen an diesem Orte auf, und sie brachten ebenfalls Blätter mit roter Farbe hervor.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Winterthur und Weinland
1. Abschnitt wörtlich aus Stauber, S.73; das Übrige leicht gekürzt aus Herzog I, Nr.226. Weitere Quellen: Meyer v. K., S. 14; Reithard, S. 149, mit der Variante: Der eine Bruder tötet den andern aus Zorn, dass dieser die Maus allein gegessen. Der Mörder flieht, doch überall hört er rufen „Kain, Kain!“. In der Verzweiflung stürzt er sich in die Töss. An der Stelle des Hüttleins der Brüder wuchs eine Buche, die allemal am Todestage der Brüder rotes Laub bekommt. Kohlrusch, S. 298 (nach Rueb mitgeteilt).
„Die älteste geschichtliche Nachricht vom Bestehen dieser Blutbuche“ - so schreibt E. Stauber S. 73 - „geht ins Jahr 1680 zurück, da der Stadtarzt Wagner in einem Werke von drei Buchen mit roten Blättern berichtet. Noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts standen diese drei seltsamen Bäume; später aber gingen zwei ab.“ Auch dem Naturforscher J. J. Scheuchzer waren die drei Blutbuchen bekannt. Er, der an der „Entzauberung der Welt“ massgeblich beteiligt war, erwähnt sie in seinen „Naturgeschichten des Schweizerlandes“, 1706, Bd. 1, S. 2, und betrachtet die daran gebundene Sage kritisch: „In grössere Verwunderung aber sol uns setzen, was die Beywohnere über eine so ungewohnte Sach vernünftelen. Sie geben vor, dass vor Zeiten fünf, andere vier, Brüder sich unter einander auf eben diesem Platz ermördet, und seyen auss gerechter Verhängnuss Gottes fünf solche mit Blutstropfen besprengte Buchbäume allda aufgewachsen, zu einem währenden Gedenkzeichen einer so greulichen That. Hierinn bestehet der Bauren ganze Philosophey, die zum öfteren nicht zu verwerffen. Diess Ohrts aber fehlet ihnen und uns an genugsamer Zeugnuss, diesere Geschicht beglaubt zu machen. Es weisst niemand etwas von der Zeit, wann sich dise Mordgeschicht solle zugetragen haben, oder von den Thäteren selbs, oder von anderen zur Wahrheit einer Histori nöthigen Umständen. Gleichwohl ist diss gewiss, dass die jetzt lebenden Bauren solche Fabel nicht ersinnet haben, sondern von ihren Voreltern als eine Tradition ererbet haben.“
Schon zu Scheuchzers Zeiten führte Buch die rote Buche im Wappen, und der Gelehrte meint dazu, man könne auf den Gedanken kommen, dass dieser Ort seinen Namen von den roten Buchen herhabe. Behandlung der botanischen und historischen Aspekte von J. Jäggi, Die Blutbuche zu Buch am Irchel (Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft 1894).
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.