Das Geisterschiff am Rheinfall
Einst ist oberhalb des Rheinfalles *) bei der Überfahrt über den Fluss ein blutjunger Schiffer im Kahne eingeschlafen. Den Schlafenden in seinem Kahne hat dann der Zug des Stromes mit Gottes sichtbarer Hilfe unversehrt über den grausen Felsensteig hinabgetragen. Statt Gott demütig für solch wunderbare Rettung zu danken, ist der junge Bursche durch das überstandene Abenteuer vielmehr übermütig geworden. In der Schenke, in der er auf die überstandene Gefahr hin den edlen Landwein sich gut schmecken liess, anerbot er sich verwegen, um hundert Gulden noch einmal die schreckliche Fahrt zu wagen. Ein unheimlicher, fremder Gast, der hinterm Tische sass, ging die Wette ein, und der freche Jüngling machte wirklich die Gott versuchende Fahrt. Aber Schiffer und Kahn wurden von den schäumenden Wogen am Fusse des Rheinfalls spurlos verschlungen. In der gleichen Nacht aber, in der dies geschehen, will man viele Jahre ein Geisterschiff gesehen haben, wie dasselbe blitzschnell wie ein Pfeil mit dem gespenstischen Schiffer den Rheinfall hinabschoss und unten in dem Strudel verschwand.
Nach der Meinung der einen muss er die Schrecken dieser grausigen Fahrt endlos durchleiden, nach der andern hat man das Geisterschiff am Rheinfall nicht mehr gesehen, seit die neue Eisenbahnbrücke den schwarzen Dampfwagenzug donnernd über den Rhein hinüberführt.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Winterthur und Weinland
Wörtlich aus Frauenfelder, Sagen und Legenden aus dem Kanton Schaffhausen, S. 24; das Motiv von der ewigen Geisterfahrt aus Kohlrusch, S. 342, und Büchli 2, S. 91; Herzog II, Nr. 202.
*) Der Rheinfall befindet sich in der Schweiz auf dem Gebiet der Gemeinden Neuhausen am Rheinfall im Kanton Schaffhausen (rechtsufrig) und Laufen-Uhwiesen im Kanton Zürich (linksufrig). Er ist einer der drei grössten Wasserfälle von Europa.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.