Der Schatz bei Brütten
Der irrsinnige Matthis war vor langen Jahren eine bekannte und gefürchtete Person im Dorfe Brütten, der man gerne aus dem Wege ging. Den Grund seines Geisteszustandes hat er in seiner letzten Krankheit dem Pfarrer anvertraut.
Matthis war reicher Leute Kind gewesen, hatte aber nach dem frühen Tod seiner Eltern den schönen Hof zum Schauplatz wilder Zechgelage werden lassen, die rasch Kisten und Kasten leerten. Er musste darauf denken, neue Mittel zu erhalten. Nun ging im Volk die Sage, dass auf dem Acker, genannt Steinmürli, unter einem einsamen Birnbaum ein reicher Schatz liege, zu dessen Hebung es allerdings grossen Mut brauche. In einer dunklen Nacht schlich er sich zur Geisterstunde an diesen verrufenen Ort, begann das Gestrüpp unter dem Baume zu roden und hob schon die Schaufel, als ein schönes Weib hinter dem Baume hervortrat. Es machte ihm Hoffnung, dass er das Ziel seiner Wünsche erreichen werde, wenn er ihr dreimal einen Kuss gebe. Matthis war gerne einverstanden und gab ihr den ersten Kuss. Aber plötzlich war alles verschwunden und es tönte wie ein leises Gelächter aus dem Baum. Die folgende Mitternacht mochte Matthis kaum erwarten. Als es zwölf Uhr schlug, stand er wieder unter dem Baum und auch die schöne Frau war wieder da. Als er sie aber umarmte, lag es plötzlich feuchtkalt an seiner Brust, und statt des reizenden Antlitzes glotzten ihn die gläsernen Augen einer grossen Kröte an, die ihm das ekelhafte Maul zum Kusse entgegenhielt. Zu Tode erschrocken wich er zurück; aber es tönte ihm gellendes Hohngelächter nach. Den Rest der unseligen Nacht und den folgenden Tag trieb es ihn ruhelos umher. Entsetzen und Furcht kämpften in seiner Brust mit der Sehnsucht nach dem schönen Weibe und der Begier, den Schatz sein eigen zu nennen. Die Habsucht siegte, und um Mitternacht stand er abermals unter dem Baum, wo ihn die schöne Frau erwartete. Mit geschlossenen Augen wollte er sie küssen; aber seinem Munde begegnete wieder das feuchte Maul der Kröte. Halbtot riss er sich los und wurde am Morgen unweit des verrufenen Ortes gefunden. Seitdem blieb sein Verstand umdunkelt, und er schleppte sein trübes Dasein noch lange Jahre hin, sich und andern zur Pein.
Viele Jahrzehnte später, als die Geschichte vom tollen Matthis fast vergessen war, machte ein junger Bauer von neuem den Versuch, den Schatz zu heben. Er gedachte damit seiner jungen Frau und seiner Mutter ein schönes Leben zu verschaffen und gelobte, wenn das Wagestück ihm gelinge, einen Teil des erhofften Gewinnes zur Verschönerung des ärmlichen Kirchleins des Ortes zu verwenden. Wohlgemut nahte er sich in einer hellen Mondnacht dem Baume und begann zu graben, als plötzlich ein altes Mütterchen aus dem Schatten des Baumes hervortrat, das ihm sagte, dass nur der den Schatz heben könne, der gewisse Bedingungen erfülle. Es gab ihm ein Beil mit der Anweisung, in der Frühe des nächsten Pfingsttages damit einen gewissen Baum zu fällen und aus dessen Holz eine Wiege zu schaffen. Erst wenn ein Kindlein in der Wiege schreie, könne er den Schatz heben; doch dürfe er zu niemandem darüber sprechen. In der Morgenröte des Pfingsttages machte sich der junge Bauer auf den Weg und ward durch das Beil auf wunderbare Art an eine Stelle im Walde geleitet, die ihm völlig unbekannt war. Fast von selbst senkte sich die Axt zum Fuss einer schlanken Tanne, die er nun zu fällen begann. Als aber der schöne Baum zu wanken anfing, tönte aus den Ästen ein Ton gleich dem Wimmern eines kleinen Kindes, der sich immer mehr steigerte, bis er beim Sturz mit einem lauten Wehruf endigte. Von Schrecken gejagt floh der Bauer die unheimliche Stelle, fand aber am andern Morgen die in Bretter zersägte Tanne vor seiner Türe. Als er nach einiger Zeit eine Wiege brauchte, erstellte er eine aus dem Holz der Tanne, und als bald ein munteres Knäblein das Licht der Welt erblickte, konnte der beglückte Vater es kaum erwarten, bis er aus der Wiege das Schreien des Kindes vernehmen würde. Aber in die Wiege gelegt verstummte der kleine Schreier und hauchte unter heftigen Krämpfen sein junges Leben aus. Auch dem zweiten Kinde, einem Mädchen, ward die Unglückswiege zum Verhängnis. Verzweifelnd warf nun der Vater, der sich als Mörder seiner Kleinen anklagte, die unglückselige Wiege ins Feuer. Und als er in reuigem Gebet dem Lodern des Feuers zuschaute, entschwebten zwei weisse Tauben dem wirbelnden Rauche; der böse Zauber war gelöst.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Unterland
Wörtlich nach Stauber, S·70. Seine Quelle: Gchr. Brütten. WeItere Quellen: Herzog I, S. 213; Lienert, S. 73; E. Zehnder, Artikel im „Wehntaler“ vom 15. 1. 1945. Dasselbe Thema hat Jakob Bosshart behandelt in „Jugend und Heimat“, 4. Band seiner Werke, Zürich 1951, S. 310 ff.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.