Der goldene Brunnen bei Kloten
Unweit Kloten, gegen Bülach zu, liegt ein kleiner Weiher, das goldene Tor genannt. Er ist an sich nicht tief; aber. eine Menge Löcher befinden sich darin, die, wie es heisst, unergründlich sind. Aus diesen quillt unaufhörlich zarter Sand in kleinen Goldblättchen herauf. Ein Knabe, der Schafe hütete, hatte sich am Rande des Teiches niedergelegt. Plötzlich wird das Wasser unruhig; ein Strom von Sand dringt herauf. Dann zerteilt sich die Flut, und eine schöne Jungfrau steht vor dem erstaunten Knaben. Lächelnd streckt sie ihm einen goldenen Ring entgegen. Der Knabe will ihn haschen; sie zieht aber allmählich die Hand zurück, bis der Nachlangende ins Wasser fällt. Alsdann umschlingt sie ihn und fährt mit ihm in zur Tiefe.
Ein Bauersmann hatte das angstvolle Geschrei des sich Sträubenden gehört und eilte herbei. Aber obgleich der Weiher, wie gewöhnlich, klar und seicht ist, kann der Bauer den Knaben doch nicht erblicken, bis dieser plötzlich aus einer dieser Quellöffnungen wie ein Pfeil herausschiesst. Er ist bewusstlos, als ihn der Bauer aus dem Wasser zieht. Wie er aber wieder zu sich selbst kommt, erzählt er, die Jungfrau des Wassers sei mit ihm in reissender Schnelligkeit tief, unendlich tief hinabgefahren, bis plötzlich eine schöne Gegend sich unten aufgetan habe. Sie hätte da festen Grund gefasst, und eine grosse, herrliche Stadt mit einem goldenen Tore sei gerade vor ihnen gewesen. Plötzlich sei eine andere schöne Jungfrau aus demselben herausgetreten. Da habe die, welche ihn umschlungen und getragen, rasch die Arme geöffnet, um ihr entgegenzueilen. Kaum sei er aber nicht mehr festgehalten worden, so habe es ihn mit solcher Schnelligkeit und Heftigkeit emporgerissen, dass er sogleich darüber das Bewusstsein verloren.
Später ist der Knabe noch oftmals zum Weiher gegangen; die schöne Jungfrau hat er jedoch nie wieder gesehen.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Unterland
Nach Herzog I, S. 215, mit unbedeutenden stilistischen Änderungen; Mem. Tig. 1742, S. 551; Lienert, S. 18; Stauber, S. 64; Büchli 3, S. 93; Hedinger, S. 9; P. Corrodi im „Wehntaler“ vom 14. 4. 1947, Nr. 43.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.