Als eines Tages ein Älpler von Spiringen an seinem Käsgaden auf dem Märcherboden vorbeiging, bemerkte er mit Erstaunen, dass die Türe offen stand. Er ging also hinein und erschrak nicht wenig, denn seine Käse waren fort. Die Frucht seiner sommerlangen Arbeit, Sorge und Mühe! Womit sollte er jetzt seine Schulden zahlen, seine Familie durch den langen Winter hindurchschlagen? Er weinte das lautere Wasser und konnte gar manche Nacht keinen Stich schlafen, kein Auge zutun vor Kummer. Endlich riet ihm ein Freund, nach Glarus zu gehen und dort einen zu suchen, der ihm den Dieb nennen könne. Das tat er und fand dort nach langem Suchen ein altes Wybli, von dem man sagte, es könne solches. Er offenbarte ihm seine Angelegenheit, und es gab ihm gute Tröstung und sagte, heute könne es ihm den Dieb noch nicht nennen, wohl aber in drei Tagen, auf diesen Zeitpunkt solle er sich wieder bei ihm einstellen. Dass er pünktlich erschien, lässt sich leicht erraten. Es nannte ihm den Dieb mit Namen und Geschlecht. Wie erschrak aber der Mann, als er diesen Namen erfuhr! Das war ja einer der reichsten und angesehensten Unterschächner, ein Mann in Ehren und Ämtern. »Gehet zu ihm«, fuhr das Wybli fort, »und fraget ihn, wann er euch die Käse bezahlen wolle. Will er nicht ausrucken, so kommt wieder zu mir, ich will ihm dann schon Nachwind machen!« Lange zauderte der Bestohlene, den Ratsherrn anzureden; er ersorgte das heillos. Endlich an einem Sonntag »nah Chiles« ging er ihm nach, redete ihn an und fragte, wann er ihm die entwendeten Käse vergüten wollte. Der schaute ihn mit einem Blicke an, als wollte er ihn in den Grund hineinbohren und auf der Stelle zu Boden schlagen, und leugnete keck. Nach langem Reden aber gestand er endlich und versprach, alles zu vergüten, und bat, ihn um Gotteswillen nicht zu verraten und in Schimpf und Schande zu bringen. So kam die Sache in Ordnung. – Das hat meine Frau erzählt.
Jos. Betschard-Brand, 66 Jahre alt
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.