Ein armes Geissbäuerlein im Maderanertal hatte die Geissgelti im Stall. Es fragte endlich bei einem erfahrenen Alten um Rat. Der sagte: »Nimm nächste Nacht die elendeste – die fyltscht – von allen kranken Ziegen, wirf sie lebend in's Feuer und verbrenne sie. Aber schliesse dabei die Haustüre und lasse unter keinen Umständen jemand in's Haus, auch nicht den besten Freund; er mag bitten, wie er will, sei unbarmherzig!
Der Mann wollte den Ratschlag befolgen. Während der Nacht zündete er in der Küche ein Feuer an und hielt die arme Ziege bereit. Da klopft's an der Haustüre. »Dü channsch etz nu wartä, dier tüeni etz ämal nid üff«, denkt der Bauer und greift nach der Ziege, um sie in die Flammen zu werfen. Wieder doppelet's, viel stürmischer als das erstemal, und ruft: »Lachmi doch innä!« Er erkennt die Stimme; es ist die des Sigristen, seines besten Freundes. »Jäh, bisch-es dü! Magsch mer värzieh, aber ich cha-di jetz nid innä lah!«, ruft er ihm. »E, worum ai nit, mer hend doch änand nie nyt z'Leid ta!« versetzt jener vor der Türe. Da stellt der Bauer die Ziege noch einmal auf den Boden, geht, öffnet die Türe, lässt den vermeintlichen Freund eintreten und bewillkommt ihn. Dann ergreift er wieder das Tier, um es dem Feuertode zu überliefern, aber da fällt ihm der Gast in den Arm und fragt: »Was wid-etz mit dem armä Tierli da machä?«
»Värbrennä wil-i's! Ich ha g'Geissgelti im Gadä, und da het mier einä, wo meh värstaht als mier zwee, das g'ratä.« – »Äh, bis doch kei Narr und glaib ai nit deerä Dummheiten! Das isch nur Aberglaibä. Nä nei, tüe dü das arm Tierli nid äso martärä!«
Da gibt der Bauer nach, lässt das Geissli am Leben und löscht das Feuer. Die beiden plaudern noch etwas miteinander, dann nimmt der Sigrist Abschied. Nach einiger Zeit trifft der geplagte Bauer seinen Ratgeber wieder an und stellt ihn zur Rede. Der aber versichert ihn, das sei gewiss nicht der Sigrist gewesen, er solle ihn nur fragen. Sofort läuft er hin und erkundigt sich; der hingegen will von allem zusammen nichts wissen.
Die Geissgelti aber wurde jener den ganzen Sommer hindurch nicht los.
Mein Gewährsmann fügt noch hinzu: »Das syg friehner gägä g'Geissgelti vill agratä wordä, aber das heigets alligs nu byg'fiegt, Wybervolch derfets keis i der Alp tohlä.«
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.