Der Geisterschachen
Im Limmattal lagen einst zwei stattliche Bauernhöfe. Durch Heirat und Erbschaft wurden die Grenzen zwischen ihnen mit der Zeit kompliziert. Dies führte schliesslich zu Streitigkeiten zwischen den Besitzern, und aus Hass versetzte der eine im sumpfigen Schachen einen und später noch mehrere Marksteine, natürlich zu seinen Gunsten.
Nach Jahren, als der Nachbar dort Holz fällen wollte, bemerkte er den Betrug. Doch die Steine waren bereits wieder von Moos bewachsen, und der Betrüger gewann den gegen ihn gerichteten Prozess. Der Verlierer, der vergeblich viele Kosten gehabt, war ruiniert, und bald starb er vor Kummer. Der Reiche wurde immer angesehener, aber mit der Zeit begann ihn das Gewissen zu plagen. Viele schlaflose Nächte brachte er im Schachen damit zu, die Marksteine an ihren alten und rechten Platz zu setzen. Bevor er aber damit fertig geworden war, starb er. Seither sieht man dort nachts einen einsamen, feurigen Mann arbeiten.
Eines Tages fuhr ein Bauer von Dietikon nach Spreitenbach durch den Schachen. Da scheute plötzlich sein Pferd. Auch mit Schlägen war es nicht zu bewegen, weiter zu gehen. Als der Bauer um sich schaute, gewahrte er an einer riesigen Tanne ein schneeweisses Totengerippe. Dem Bauern lief’s kalt über den Rücken. Er schlug mit der Peitsche nach der grauenhaften Erscheinung. Aber sie blieb stehen. Voll Entsetzen wollte er davonlaufen, aber er vermochte kein Glied zu rühren. Der Geist sagte mit hohler Stimme, die wie fernes Donnerrollen klang: „Auf diesem Gut habe ich vor vielen hundert Jahren die Grenzsteine versetzt und dadurch meinen Nachbarn ums Leben gebracht. Ich kann durch einen Bauern der Gegend erlöst werden, wenn er das tut, was ich hätte tun wollen: die Steine an den alten Platz zu setzen. Bist du bereit, einen Drittel von deinem Gut dem armen Nachbarn zu geben? Sag schnell ja, denn in wenigen Augenblicken ist meine Zeit um, und ich muss wieder hundert Jahre warten, bis ich den nächsten um diesen Liebesdienst bitten darf.“ Da der Bauer sich nicht sofort zu einer Antwort zurechtfinden konnte, vergingen die Augenblicke, und ein Blitz schlug aus heiterem Himmel neben dem Gespenst ein - und verschwunden war der ganze Spuk.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Limmattal
Aus den „Sagen aus dem Limmattal“. Quellen sind dort nicht angegeben. Laut Vorbemerkung wurden die Sagen durch Sekundarlehrer K. Klenk „durch Schulaufsätze“ gesammelt.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.