1. D'Rappä vercheemet niä gnüeg ohni am Heelig Abed; i ihrem Näscht hennt-si ä Stei, und der macht, daß mä niä keis Rappänäscht z'gseh 'kunnt; und wer ä so-nn-ä Stei by-n-em het, isch äu unsichtbar.
Unter einem Grotzli lag einmal ein Geissbub, neben ihm eine kleine Wasserlache, und, wenn er in diese Wasserlache hineinguckte, sah er darin das umgekehrte Tännchen und in den Zweigen des Tännchens ein Vogelnest aus Reisern und im Nest drei junge Raben. Da stand er auf und wollte die Raben holen. Aber um keinen Preis konnte er das Nest oder die Tiere finden. Lange probierte und studierte er, guckte in die Wasserlache, kletterte in die Tanne hinauf, aber umsonst, bis es ihm in den Sinn kam, im Spiegelbild die Äste des Baumes zu zählen. Genau merkte er sich jetzt, auf dem wievielten Ast das gesuchte Nest angebracht sei, kletterte nochmals hinauf, betastete den Ast, und endlich hatte er einen Stein in der Hand, und jetzt wurde auch das Nest mit den drei Jungen sichtbar. Den gefundenen Stein nahm er mit sich heim und zeigte ihn dem Vater. »Lüeg da, Vatter, weeligä Stei ha-n-ich da imm-änä Rappänäscht innä g'fundä!« sagte er. »E, der Tyfel hindärä,« rief der Vater, »wo chunnsch etz dü här, und wo bisch dü, daß-mä dich nytt g'seht?« »E grad vor-ech züechä stahn-i ja; g'sehnd iähr nytt?« fragte der Bub. »Ich g'sehn-ä kei Bitz vo diär,« entgegnete ratlos der Vater. Endlich kam's dem Bub in den Sinn, was da los sein könnte, und er tat den Stein aus der Hand und legte ihn auf den Tisch; jetzt sah ihn der Vater und vernahm aus seinem Munde, wie alles gekommen.
Jos. Maria Tresch, Silenen
2. Schon längere Zeit hatten die Hirten einer Schächentaler Alp bemerkt, dass die Raben immer einer ganz bestimmten Stelle im benachbarten hohen Felsen zuflogen, und daraus den richtigen Schluss gezogen, dass sich dort ihr Nest finden müsse, obwohl sie es nicht zu erspähen vermochten. Darum liessen sie an einem festen Seil einen ihrer Kameraden am Felsen herunter, um das Nest zu suchen. Lange tastete dieser an der ihm genau bekannten Stelle herum, bis er endlich einen merkwürdigen Stein, den er nicht beachtet, in der Hand hatte. Jetzt wurde plötzlich das Nest sichtbar. Der Stein hatte mitten drin gelegen. Aber Eier oder Junge waren keine mehr da. Der Älpler steckte den Stein in seine Hosentasche und gab das Zeichen zum Aufziehen. Die Kameraden zogen, sie fühlten das Gewicht am Seil, aber sahen niemand daran hängen. Sobald der Bursche oben ankam, fing er an zu reden. Aber kein Mensch sah ihn. Alle glaubten, er sei verunglückt, und es sei sein Geist, der zu ihnen rede. Schrecken und Verwirrung hielt sie gefangen, bis es endlich dem Unsichtbaren in den Sinn kam, den Stein wegzuwerfen. Und nun stand er leibhaftig vor ihnen, und alle atmeten erleichtert auf. Jetzt war aber der Hut verschwunden, worin er den Zauberstein geworfen. Er fand ihn jedoch bald und trug seinen Fund darin heim.
»Jä, das hennt der Vatter und der Grossvatter ettlichs Mal g'seit, wem-mä-n-äso-nn-ä Rappästei findä tät, sä chennt-mi-si unsichtbar machä.
Daniel Imholz, 50 J. alt, Unterschächen, dessen Urgrossvater Lehrer gewesen.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.