Im Birchi, gleich im ersten oder zweiten Häuschen am alten Weg, wenn man von Seedorf oder Isleten her ins Isental kommt, lebten vor Zeiten zwei Jungfrauen von etwas wunderlichem Wesen. Sie besassen einen schönen Kirschbaum, den einzigen damals im ganzen Tale. Es konnte daher nicht fehlen, dass die lüsternen Talleute dann und wann bei ihnen um einige der leckern Früchte bettelten, aber selten jemand wagte es, sie zu essen, denn man traute den zwei Wybervölchern und ihrer Freigebigkeit nicht wohl. Ein junger, mutiger Bursche unternahm einmal das Wagestück und machte sich hinter das Becki voll Kirschen, das sie ihm auf dem Stubentisch aufgestellt hatten. Da, auf einmal trieb es ihn unwiderstehlich zur Stube hinaus in die Küche. Hier standen die zwei Schönen an der Herdstatt und rührten wie besessen in einem Häfelein und murmelten dazu: »Chämi üff und niänä-n-a!« Jetzt lüpfte es den Burschen und fuhr mit ihm durch's Kamin1 hinaus und hoch über alle Berge durch die Lüfte fort in unendliche Fernen, bis er endlich in einem ganz andern Weltteil im dichtesten Dornengestrüpp zu Boden kam und stecken blieb. Da stand er und wusste nicht, wo aus und ein. Zuletzt fing er an, zu beten und die Muttergottes um ihre Hilfe anzuflehen. Auf einmal stand eine schöne, weissgekleidete Frau vor ihm, zeigte mit der Hand die Richtung, die er einschlagen sollte, und verschwand wieder.
Drei Tage und drei Nächte wanderte der Isentaler und erreichte schliesslich ein ihm völlig unbekanntes Kloster und klopfte an die Pforte. Freundlich wurde er aufgenommen, aber niemand kannte ihn, keiner verstand seine Sprache. Da führten sie ihn vor den Höchsten im Kloster; der sass auf einem schönen Stuhle und hatte ein grosses, mächtiges Buch auf seinen Knien aufgeschlagen. Das war das Weltbuch. Und den fragte er nach dem Wege zu seiner Heimat und erzählte, wie ihm eine schöne, weisse Frau die Richtung hieher gewiesen. Der Mönch erklärte: »Niemals, und wenn du hundert Jahre alt würdest und jeden Tag zehn Stunden wandertest, würdest du je wieder dein Vaterland erreichen, wenn ich nicht dich segnen würde.« Und er hob seine Rechte, segnete ihn und legte ihm ein geweihtes Skapulier an. Der Bursche machte sich wieder auf die Reise und gelangte nach langer Zeit in sein geliebtes Isental mit den grünen Wiesen und dunklen, würzigen Tannenwäldern.
Karolina Tresch-Gisler, 80 J. alt, Seedorf
Fußnoten
1 Und doch besitzt keines der beiden alten Häuser daselbst ein Kamin.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.