Der geheimissvolle Bettler

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Nach Andermatt kam einst ein fremder, unbekannter Bettler. Es war so abscheuliches Wetter, dass man keinen Hund aus dem Haus gejagt hätte, und durch die engen Gassen und Winkel des stillen Bergdorfes mit seinen braunen Häuschen schlich die unheimliche Nacht. An gar manche Tür hatte er schon geklopft und um eine Nachtherberge angehalten, aber nirgends war seine Bitte erhört worden. Bei den Vermöglichen abgewiesen, wandte er sich endlich zum Hause einer kleinen armen Familie, ob er wohl da weichere Herzen finde und ein bescheidenes Lager. Und richtig, die Gastfreundschaft, welche ihm die harten Reichen verweigert, die gewährten ihm die freundlichen Armen. »In eines der beiden Betten können wir dich nicht legen,« sagte zu ihm der Familienvater, »wenn du aber zufrieden bist, auf dem Ofenbänkli zu schlafen, kannst du bei uns übernachten und mit uns essen und trinken.« Der müde Wanderer war zufrieden. Drei Tage lang peitschte der eisige Nordwind graue Nebelfetzen und Regenströme durch das enge Tal hinauf. Die guten Leutchen schickten aber ihren Gast nicht fort; sie teilten mit ihm getreulich Speis und Trank, und das Ofenbänkli diente ihm als Lagerstätte. Am vierten Tage endlich hellte sich der Himmel auf, und der Fremdling schickte sich an, weiterzureisen. Beim Abschied sagte er zu den guten Leuten, die ihn so freundlich aufgenommen: »Geld kann ich euch keines geben, aber etwas will ich euch zur Belohnung eurer Gastfreundschaft zurücklassen.« Er nahm sein Taschenmesser und schnitt am Türsturz eine ganze Reihe von Buchstaben ein, deren Sinn bis jetzt niemand erraten hat. Dann fügte er hinzu: »Diese Wohnung wird in grosse Gefahr kommen, aber es wird ihr nichts geschehen.« In der Tat, so erzählt das Volk, brannte später die eine Hälfte des »zweimännigen« Hauses ab; die andere Hälfte aber, wo der Bettler beherbergt worden, blieb von den hungrigen Flammen verschont. Das Haus wird noch heute gezeigt, und die geheimnisvollen Buchstaben warten noch immer auf ihre Entzifferung.

Josef Huber, Erstfeld; J.J. Simmen, Andermatt

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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