a) In der Sewlialp, hoch ob Silenen, zu Füssen der jähen, himmelhohen Felsenwände der beiden Windgellen liegt tiefgebettet der Sewlisee. Gegen die rauhen Nordwinde wie gegen den stürmischen Föhn ist er wohl geschützt, und seine wellenlosen, etwas dunklen Wasser ohne sichtbaren Abfluss scheinen nur zwei Gäste zu kennen, Ruhe und Frieden.
Doch die geschärften Ohren des Gemsjägers und des Geissbuben vernehmen von Zeit zu Zeit ein leises Pfeifen aus seiner Nähe, fast wie das Pfeifen eines Murmeltiers, das seine Kameraden warnt, von Zeit zu Zeit auch ein gedämpftes Krachen, wie wenn in der Ferne ein Gletscher zu Tale stürzt. Alle dreissig Jahre – diese Zahl nennen die Alten – tritt er über seine Ufer; dann bäumen sich seine Wasser auf zu einem brausenden Wirbel, unter fürchterlichem Pfeifen und Krachen stürzen sie sich dem Ufer zu und über hohe Felsen in das Tal hinunter, weithin Verderben bringend. Das Evital in Silenen legt beredtes Zeugnis ab von ihrem unheilvollen Wirken. Es ist die Strafe für eine grosse Sünde, begangen in grauer Vorzeit da droben in der Sewlialp.
Dort hauste viele, viele Sommer dieselbe reiche Familie. Die Alp brachte die milchreichsten Kräuter her vor im Überfluss, die Kühe brauchten nicht, wie heute, in die steilen Planggen und wilden, abgelegenen Weideplätze geführt und mit Mühe bewacht zu werden; die Milch floss in Strömen, die Arbeit war gering. Aber Überfluss und Müssiggang zeugten den Übermut. Die Älpler glaubten, ohne den Schutz und Segen Gottes leben zu können; weder um ihn demütig um seinen Beistand zu bitten, noch um ihm zu danken für seine reichen Wohltaten, hoben sie ihr Herz zum allmächtigen Gott. Ohne zu beten zu rufen, beschlossen sie ihr Tagewerk, ohne die gute Meinung begannen sie es. Einmal luden sie die Talleute zu einem lustigen Tage ein. Da bauten sie alle zusammen, bei Gott! aus köstlichem Käse und Anken eine Brücke über den See, spotteten Gottes und seines Segens, tanzten und haselierten Tag und Nacht. Jetzt war aber das Mass des Übermutes voll und die Geduld Gottes erschöpft. Es brach ein Ungewitter los über die Alp, von allen Seiten tosten die Bäche daher und fegten alles, Vieh und Menschen, Rasen und Hütten in den See, die Winde türmten seine brausenden Fluten auf und trieben sie, unter Krachen und Pfeifen der einzigen offenen Seite der Alp zu und über die Felsen hinunter in das Tal, wo sie das schöne Gelände am Evibach verheerten und auf viele Jahre verwüsteten.
Seitdem wiederholt der sonst so friedliche Alpensee alle dreissig Jahre sein Zerstörungswerk und hält auf diese schauerliche Weise das Andenken wach an den Frevel, der da oben begangen wurde, und die Sühne, die er gefunden.
Tobias Lussmann, Silenen
b) Nach anderer Erzählart wirtschaftete auf Sewli ein reicher Mann. Im Übermut sagte er, der Herrgott brauche ihm keinen Weg zu machen, er vermöge es selber. Er ging hin und machte von der Hütte, die an Stelle des heutigen Seeleins stand, bis zum Kässpeicher eine Strasse aus lauter Käse und Anken. Als er zurückkehrte, war die Hütte verschwunden und der See entstanden.
Peter Tresch, Silenen
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.