1. In der Sandalp hatten sie so einen Sprenggbub, den der Senn gar nicht leiden, gar nicht sehen mochte. Der hungrige Bub kam ihm immer zu früh zum Essen. Eines Tages, da der Bub wieder in die Hütte trat und nach dem Essen spekulierte, packte ihn der Senn und warf ihn in die siedende Schotte. Den Leichnam warf er in ein furchtbares Tobel, wo der Bach fast unsichtbar dahintobt. Bald ging er in die Fremde, denn die Mordtat drückte ihn. Nach 25 Jahren kam er wieder heim. Im Städtchen Glarus betrat er ein Wirtshaus, wo sie eben tanzten. Er ass und trank und fing bald auch zu tanzen an. Da er schwitzte und Durst hatte, ging er zur Linth, um sich ein wenig abzuwaschen und zu kühlen. Da kam ein wunderschönes Beinchen dahergeschwommen, grad in seinen Hut herein, mit dem er Wasser schöpfte. Er betrachtete es, und je mehr er's betrachtete, desto schöner kam es ihm vor. Es war weisser als Elfenbein und hatte eine herrliche Form, fast wie eine Vogelfeder. Er steckte es auf seinen Hut und ging wieder auf die Tanzdiele. Dort begann das Beinchen zu bluten. Da erschraken alle und fragten ihn aus, und er musste seine Mordtat bekennen.
Joh. Jos. Zgraggen
2. Über den Friedhof in Schattdorf schritt einst ein bejahrter Mann. Einem Totenschädel, der ihm in den Weg kam, versetzte er einen unsanften Tritt. Jetzt fing der Knochen an zu bluten, und die Leute, die solches sahen, schöpften Verdacht, ergriffen den erschrockenen Mann und führten ihn vor den gestrengen, weisen Richter. »Ich könnte mich an kein Vergehen erinnern,« bekannte der Angeklagte, »nur einmal vor vielen, vielen Jahren, da ich ein junger, leichtsinniger Senn war, habe ich auf der Alp einem fremden Bettler Käslab in die Süffi getan, die ich ihm schenkte, und daran, da sie in Gärung kam, hat er wohl sterben müssen.«
Frau Gamma-Gamma
3. Zwei Männer, unter ihnen der Adlerwirt Senn von Bürglen, marschierten zur Nachtzeit über den Riedboden in der Gisleralp. Senn, sich am Stocke haltend, stupfte öfters in den Moorboden, und endlich blieb ein Totenkopf an dem langen Eisenstift hängen. Den Totenkopf nahm er lachend mit. Als sie zu Bürglen im Gasthaus zum Adler an die Heitere kamen, sahen sie, dass der Totenschädel blutete! Im Schrecken warf ihn der Mann in eine Ecke des Hausganges. Doch blieb es nicht heimlich. Es kam vor Gericht, wo Senn bekannte, er habe vor genau 30 Jahren – er war unterdessen lang in der Fremde gewesen – als amtierender Senn in der Gisleralp seinen Handknab aus gottlosem Leichtsinn und Übermut in einem Chessi voll heisser Schotte gesotten und den Leichnam im Riedboden vergraben. Für diese und andere Schandtaten wurde er enthauptet. Jos.
Maria Gisler, Bürglen
4. a) Im Stickihaus zu Spiringen lebte eine brave, bildschöne Jungfrau, die Tochter vermöglicher Eltern. Zwei Burschen, ein reicher und ein armer, kamen zu ihr z'Gass und warben um ihre Liebe. Sie hatte den armen lieber, und als sie vom reichen zum Tanze eingeladen wurde, schlug sie die Einladung aus und begleitete den armen. Der Abgewiesene ging eines Nachts hin und tötete in seinem Zorne den Bevorzugten, als dieser wieder seine Geliebte besucht hatte, schleppte den Leichnam zum Schächenbach hinab, vergrub ihn daselbst an jenem Platz, den die Schächentaler den Holzboden nennen, und flüchtete in die Fremde. Nach 30 Jahren kehrte er in die traute Heimat zurück, und, als er das heimatliche Dorf betrat, fand er die junge Welt auf der Tanzdiele beisammen. Er mischte sich unter die Fröhlichen und wagte ein Tänzchen. Jetzt kam ein Hund herein, der einen Totenschädel in der Schnauze trug, spielte mit ihm und liess ihn endlich liegen. Da rollte er zwischen den Füssen der Tanzenden herum, und jeder, dem er in den Weg kam, versetzte ihm einen Fusstritt, zuletzt auch der Fremde. Doch wie erbleicht der, da der Knochen anfängt zu bluten! Die Lustbarkeit nimmt ein jähes Ende, denn alle sehen das Blut rieseln. Der Mörder ist entdeckt, bekennt und erleidet die verdiente Strafe.
Das Verbrechen sei bei dem grossen Stein unter dem Stickihaus geschehen, und zum ewigen Andenken sei ein Kreuz darauf eingemeisselt worden.
Stein und Kreuz waren zu sehen, bis die neue Klausenstrasse erbaut wurde. Da ging der Stein in Trümmer, aber die Sage bewahrt noch das Andenken an Frevel und Sühne.
Daniel Imholz; Nikl. Inderkumm u.a.
b) Nach 30 Jahren kehrte er heim. Als er zum Tanze ging, fand er ein Knöchelchen, das ihm gefiel, und das er daher auf seinen Hut steckte. Während des Tanzes sahen die Leute, dass das Knöchelchen auf dem Hute blutete. Zur Rede gestellt, gestand er sofort.
Frau Arnold-Arnold
5. Der Senn der Alp Gornern gab einem Bettler Süffi, worin er vorher tüchtig Käslab getan hatte. Der Arme soff wacker davon und ging dann seines Weges weiter. Bald geriet die Süffi in seinem Leibe in Gärung und blähte ihn auf. Den Tod nahe fühlend, verkroch er sich in einer Höhle am Abhang des Berges, und dort zerbarst er. Niemand suchte seine Leiche. Nach vielen Jahren ging einmal der rohe Senn mit einigen Kameraden unterhalb jener Höhle talaus oder talein. Zufällig löste sich da oben der Totenschädel und kam vor des Senns Füsse gerollt. Der gab ihm einen Fusstritt. Aber wehe! Der Schädel fing an zu bluten. Da war der Senn verraten und konnte der verdienten Strafe nicht mehr entgehen.
Barbara Gerig, Gurtnellen
6. Zwei Älpler, die mit Käsen von Rindermatt her kamen, gerieten beim Brunnen zwischen Wyssenboden und Gisleralp, wo sie ausruhten, miteinander in Streit, und der stärkere erschlug den schwächern. Der Mörder floh in die Fremde. Nach vielen Jahren dachte er, es sei Gras über die Geschichte gewachsen, und suchte wieder die Heimat auf. Als er beim Tellenchappeli in Bürglen vorbeiging, kam eine weisse Kugel vom nahen Friedhof her auf ihn zugerollt, grad an sein Schinbein. In drei Tagen war er eine Leiche. Die Kugel aber war der Totenschädel des ermordeten Kameraden gewesen.
Jos. Maria Gisler, Balmer
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.