Handknab und Senn waren beide in ein und dasselbe schöne Mädchen verliebt. Da ging eines Sommers der eifersüchtige Senn und tötete während einer Gewitternacht den Nebenbuhler und warf den Leichnam in den reissenden Alpbach. Als die Leute kamen und nach dem Handknab fragten und suchten, da fanden sie noch einige blutige Kleiderfetzen, und der Mörder sprach keck die Vermutung aus, ein hungriger Wolf habe ihn gefressen.
Es war mittlerweile der Herbst ins Land gereist, und das Dörflein am Alpbach feierte Kilbi; auch unser Senn führte die Seine zum lustigen Reigen. Im Tanzhaus gings hoch her mit Träppälä und Geuzä; der Schweiss rann den Lustigen von der Stirne, und Staubwolken hüllten sie ein. Der Senn bekam Durst und ging – die Nacht war mondhell – zum nahen Alpbach, sich am spiegelklaren Wasser zu erquicken. Wie er sich bückt und mit dem Hut das helle Labsal schöpft und zum Munde führt, schimmert ihm aus dem Sand und Gestein des Bachgrundes ein blendendweisses, zierliches Knöchelchen entgegen. Er nimmt's und steckt's als seltene Zierde auf seine Kopfbedeckung. In der Tanzlaube erspäht's auch seine Holde. »Was für ein schönes Elfenbeinchen du an deinem Hute hast!« – »Gefällt es dir, so nimm's!« spricht galant der Senn und ergreift das Beinchen, um es ihr zu reichen. Doch, wie sie's berührt, da blutet's! Vergeblich sucht ihr der totenbleiche Älpler allerlei Erklärungen einzureden; sie berichtet es den Eltern, diese den Verwandten, bald spricht alles von dem blutenden Knöchelchen. Man forscht nach, stellt den Senn zur Rede, und er sieht sich gezwungen, ein Geständnis abzulegen. Der verdienten Strafe konnte er nicht entrinnen.
»Das Meitli isch halt mit dem Handchnap nu verwandt g'sy, wäg dem het das Beindli afah bliätä,« meint die Erzählerin, gebürtig von Schattdorf.
Frau Wipfli-Herger
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.