Im Bergdorf lebte eine Frau, die ihrer Schönheit willen weitum gerühmt wurde. Ihr Mann war gestorben, und zwei Kinder wurden gross, das eine bucklig, das andere schlank und anmutig wie eine Flühblume. Derweil ihr aber niemand sagte, sie sei hübsch, wusste sie nicht darum, blieb einfach und bescheiden und ertrug die Kränkungen der ältern Schwester, die sie beneidete, in stiller Demut. Allein, da war auch die Mutter, die, auf ihre Schönheit eitel, keine duldete, die sie an Gestalt und Glanz übertraf und den Duft der Lieblichkeit ausströmte. Eines Tages humpelte ein schitteres Weiblein daher, wischte die Hakennase und rammte den Stock in die Erde. «He, he, schöne Frau, du meinst die Rose am Berg zu sein! Ja, ja, wenn nicht die andere wäre, dein feines Töchterchen, die Seraphine, die aufspriesst zu aller Lust und Wonne!»
Blass und grau vor Neid und Missmut, drehte die Mutter sich auf der Treppe nach Seraphine, die just aus dem Dorf kam. Sie musste es selber eingestehen, ihr Kind war schöner als sie. Dieser Wuchs, die frischen Wangen, Augen wie eine Gemse und das zauberische Lächeln auf den Lippen -
«Mutter, was hast du?» rief Seraphine bestürzt. «Ist dir nicht gut?»
«Ich mag dich nicht mehr sehen und hören. Du bist gross und alt genug, dich selber durch den Tag zu bringen. Fort auf der Stelle, pack dich!»
«O Mutter, was hab ich dir zuleid getan?»
«Fort, fort, und kehr nicht mehr zurück!» Krachend flog die Tür ins Schloss, und es knarrte der Riegel.
«Was hab' ich wohl verbrochen, warum werde ich verstossen?» schluchzte das Mädchen und lief das Dorf hinaus, durch Flur und Weide, immerzu dem Weg nach. Sie pflückte Beeren und knusperte die Brotrinde, die sie noch in der Tasche fand, und als sie ein wildes Tier brummen hörte, kehrte sie schleunigst um und suchte der Wildnis zu entfliehen. Immer tiefer geriet sie in den Wald, dunkel ward es, stockfinstere Nacht. Was tu ich, wo finde ich den Ausgang, ach Gott im Himmel, steh mir bei! Am ganzen Leibe zitternd, sank sie auf einen Stein und betete. Brum, brum, scholl es im Gebüsch. Sie scheuchte davon und sah ein Lichtlein schimmern.
An das Licht sich klammernd, flog sie, und die Füsse trugen sie vor ein grosses doppeltüriges Haus. Mit pochendem Herzen spähte sie durch das erleuchtete Fenster und zählte eins, zwei, fünf, zwölf bärtige, knorrige Gesellen, die rund um den Tisch sassen und grobe Reden führten. Aus den verwegenen Augen blitzten Übermut und Grausamkeit. Gewiss ein Räuberhaus! Wo flieh' ich hin? Sie eilte davon und kroch in eine Höhle, die in der Nähe sich öffnete, empfahl sich der Vorsehung und schlief ein.
Als die Vögel musizierten und der Morgen in die Höhle hineinzündete, erwachte sie. Furchtsam trat sie ins Freie und sah das grosse Gebäude gegenüber, in dem die Räuber hausten. Die Tür ging auf, und einer nach dem andern, mit Spiess und Schwert bewaffnet, überschritten sie die Schwelle und schlugen sich in den Wald. Ihrer elf zählte sie, also musste einer zurückgeblieben sein.
Ein Räuchlein ringelte aus dem Kamin, und bald ging auch der letzte von dannen, das Haus war verlassen. Zaghaft schlich sie sich hinüber, öffnete die Pforte, die nicht verschlossen war, und es duftete so herrlich von frischgebackenem Brot, dass ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Sie schloss den Backofen auf und nahm einen braunen Laib heraus. Jetzt konnte sie doch ihren Hunger stillen.
Aus Laub und Streue machte sie sich in der Höhle ein Lager zurecht, und als der zweite Morgen graute und die Männer sich entfernt hatten, ging sie wieder hin, stahl ein Brot aus dem Ofen und trug es ins Versteck.
Die zwölf Räuber legten sich tagsüber an die Strasse, überfielen und plünderten die Säumerzüge und kehrten mit der Beute beladen nach Hause zurück.
«Pfister, du bist nicht bei Trost», sagte der Älteste, «schon wieder fehlt ein Brot auf dem Tisch!»
«Gewiss hab' ich heute so gut wie gestern zwölf Mutsche geknetet und in den Ofen geschoben», rief der Bäcker betroffen, «ich weiss nicht, wo das zwölfte hingekommen ist. Es muss ein Dieb in der Nähe sein.»
Da schrie und lärmte die Bande: «Pfister, du bist ein Tölpel und hast Spinnweb im Hirn. Wer wollte sich erkühnen, in unserm Revier zu hamstern, just grad ein Brot zu stibitzen und die Schätze zurückzulassen? Ein Schelm würde doch zum mindesten den ganzen Ofen ausraumen!»
«Nur ruhig Blut, ihr frechen Lümmel, wenn ich den Dieb nicht ertappe, so könnt ihr mich hängen!»
Am nächsten Morgen wartete Seraphine, bis die Räuber das Haus verliessen, und im Glauben, auch der Bäcker sei fortgegangen, schritt sie ahnungslos zur Tür und nach dem Backofen, der wieder herrlich duftete, und bediente sich. O, wie sie zusammenfuhr, als der Bäcker hinter der Mulde hervorsprang und nach den braunen Zöpfen griff! «Ein famoser Fang!» triumphierte er, liess augenblicks los und verstummte. Dieses Seidenhaar, die Augen und das Dirnchen wie Schnee und Unschuld! So etwas hatte er noch nie gesehen, so etwas hatten seine Tatzen noch nie berührt. Und doch - und doch - sein eigen Kind, das er einst besessen, geliebt und in der Reinheit seiner Jugend der Erde hatte übergeben müssen! War es nicht vor zehn Jahren - hat ihn nicht der Tod seines Lieblings, das böse Schicksal, die Verzweiflung, zum Räuber gemacht?
« Verzeih mir, liebes Mädchen», stammelte er, von der Erinnerung und der lieblichen Erscheinung noch ganz übernommen, «ich wollte dir nicht weh tun. Iss und trink, hier ist Brot und Käse, hier ist Honig und Milch, die ich im Ofen wärme. Ich will dich behüten, als ob du mein leibhaftig Töchterchen wärest. Nebenan ist eine Kammer, und ich bleibe heute zu Hause, du darfst dir das Stübchen einrichten und sollst alles haben, was dein Mund und Herz begehrt!»
Als die Gefährten heimkehrten und sich zum Mahle niederliessen, sagte der Bäcker: «Ei, hab' ich endlich den Dieb erwischt, ein gar putziges, niedliches Waldvögelein, das noch sehr scheu und frostig tut!»
«Ein Mädchen, ist's möglich, ein Mädchen?»
«Wollt ihr sie schauen, wollt ihr artig sein und wie die Schülerbuben die Arme verschränken, wenn sie erscheint? Sie ist nicht wie wir, sie soll für uns beten und uns den Himmel wiedergewinnen! Nein, bei meiner Seligkeit, ich gehe nicht mehr auf Raub und Plünderung! Ein Weilchen, und euch wird wie mir geschehen!» Damit schloss er die Tür auf und winkte Seraphine, die in der Kammer alles gehört hatte, und lud sie höflich ein, oben am Tisch zu sitzen.
Unschlüssig und nicht ohne Bangen trat sie aus dem Stübchen, und die Männer, von ihrem Liebreiz bezaubert, grüssten ehrerbietig und sagten, es werde ihr keiner ein Haar krümmen, sie möchte bei ihnen bleiben und zum Rechten sehen. Sie nannten alle ihre Namen:
Strelti, Belti, Rotschi, Potschi, Pix, Pux, Mux, Mutti, Dübelbeiss und Eichiboz, Schlaginhaufen, Schwingitotz.
Sie musste die spassigen Namen wiederholen, vorwärts und rückwärts hersagen, und ehe das Mahl vorüber war, kannte sie alle ohne Fehl. Der Älteste streichelte seinen weissen Bart und sagte: «Es ist Zeit, dass wir uns bekehren und ein anderes Leben führen. Wir wollen nicht mehr stehlen und rauben, denn wir haben ja unser Auskommen. Wir wollen nützliche Arbeit verrichten und die Strasse im Wald verbessern. Das liebe Kind ist ein Geschenk des Himmels, ihm sei Lob und Ehre!»
«Seraphine rüstet uns jeweilen das Abendbrot», rief der Bäcker begeistert, «das Essen wird reichlicher und schmeckt uns doppelt so gut. Willst du hier bleiben und unser Schutzengel sein?»
Von zarter Röte überhaucht, erwiderte sie: «Wen ihr immer so freundlich seid mit mir, so bleibe ich gerne!»
«So ist es recht, bravo, bravo!» brauste es in der Runde, und die Männer leerten eine Kanne um die andere auf ihre Gesundheit, bis sie beduselt unter den Tisch fielen.
Als sie am Morgen fortzogen, um die Strasse in Angriff zu nehmen, ermahnte der Bäcker: «Seraphine, schliess die Tür von innen, und lass niemand herein! Gute Menschen meiden diese Stätte!» Unterdessen war zwischen Mutter und Tochter am Berg kein Wort mehr von Seraphine gesprochen worden.
Gewiss hatten die wilden Tiere sie überfallen und getötet. Die Mutter war wieder die Schönste und konnte sich neidlos bewundern lassen.
Eines Tages erschien das Weiblein und streckte die dürren Finger nach dem offenen Fenster, an dem die stolze Frau stand, um sich den Vorübergehenden zu zeigen und an den Schmeichelrufen zu laben. «Hoho, hihi, du glaubst, die Schönste am Berg zu sein; schlag es dir aus dem Kopf! Seraphine pflegt sich bei den Räubern im Wald, sie ist die schönste Rose im Land!»
»Ist sie denn nicht tot?» rief die Mutter, grün und blau vor Arger. «Ohne Speise ist sie von uns gegangen und hat nichts mehr von sich hören lassen. Flink, flink, zu den Räubern im Wald, und mach', dass ich Ruhe bekomme!»
Das Weiblein kleidete sich als Krämerin und zog durch den Forst zum Räuberhaus, pochte an die Tür, und Seraphine guckte durchs Schiebefensterehen wer draussen sei.
«Ich bin's, die Krämerin, halte köstliche Sachen feil, Röcke, Kopftücher, Bänder und Hemden, mach' auf!» .
«Geh nur deines Weges, ich darf nicht aufschliessen!»
«Schau das Röcklein, grad wie für dich geschnitten, und das Hemd hier, von der feinsten Seide, den Riegel auf, und ich pass' es dir an den Leib!»
«So komm und kleide mich neu, und ich brauche mich meiner Lumpen nicht mehr zu schämen!»
Die Tür klappte auf, und als Seraphine in das schneeweisse Hemd schlüpfte, fiel sie wie vom Schlag getroffen zu Boden. Die Alte lachte närrisch, schletzte die Tür zu und steckelte eilig davon.
Als die Männer nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrten, wie sie da erschraken und wehklagten!
«Sie atmet noch und lebt», rief einer, und flink trug der alte Dübelbeiss sie ins Kämmerchen aufs Bett, zog ihr das neue Hemd aus, die alten Kleider wieder an, und sie öffnete die Augen, erhob sich und war wieder wie zuvor. Sie erzählte, was sich zugetragen hatte; der Bäcker verbrannte das neue Hemd im Ofen und nahm ihr das Versprechen ab, keinem Menschen mehr die Tür aufzumachen.
Nach einiger Zeit kehrte das Weiblein bei der bösen Mutter ein. «Hoho, hihi, schön bist du immer noch; jedoch die Schönste nicht! Die Räuber im Wald, sie hegen und pflegen das schönste der Röslein im Land.»
«Lebt sie immer noch? Wofür hab' ich dir den grossen Lohn bezahlt?» Wie eine Hummel schoss die Frau in der Stube herum.
«Die Räuber haben ihr das Hemd weggenommen, und da ist sie vom Tod auferstanden. Gib mir den Lohn, und ich schaff' es, dir zur Freud und den andern zum Leid!»
Auf einem Eselchen ritt sie in den Wald, fremdartig aufgeputzt, und als sie an die Pforte des Räuberhauses klopfte, rief Seraphine, sie öffne nicht, sie dürfe niemand hereinlassen.
«So wende deine Äugelein, schönes Kind, dem Fenster zu, und guck, was ich alles mitgebracht habe: Goldene Ketten, Spangen und Ringe und hier ein glänzendes Ringelein für dich; dreimal links und dreimal rechts um, und was du dir wünschest, wird erfüllt!»
Von dem Gefunkel des kostbaren Geschmeides verwirrt, öffnete Seraphine die Haustür, und kaum sass der Ring am Gliede, brach sie mit einem Schrei in die Knie und wie tot zusammen.
«So, nun hast du ausgepfiffen, schönes Waldvögelchen!» krächzte das Weiblein und husterte von dannen.
Schlimmes ahnend, stürzten die Männer des Abends durch die offene Pforte, trugen die Leblose ins Kämmerchen und untersuchten in aller Hast ihre Kleider. Da sie nirgends etwas Verdächtiges entdecken konnten und Seraphine nicht mehr aufwachen wollte, jammerten sie und trauerten Tag und Nacht. Schwingitotz fertigte einen gläsernen Schrein, sie betteten ihren Liebling auf weiche Kissen und stellten den Sarg in den Schatten einer breitästigen Tanne. Der Bäcker aber, als das Mädchen so schön und friedlich schlummerte und nicht mehr aufwachen wollte, geriet ausser sich, tobte und heulte, er könne ohne sein Waldvögelein nicht mehr leben, zog das Schwert und stiess es sich mitten ins Herz. Seine Gefährten taten dasselbe und starben in derselben Stunde.
In dem Wald wurde eine grosse Jagd abgehalten. Der Graf und sein Diener verirrten sich zu dem Räuberhaus und entdeckten den gläsernen Sarg, in dem Seraphine ruhte, und die zwölf Männer daneben, die sich das Leben genommen hatten. «Die Gesellen sind alle tot», bemerkte der Diener, «das schöne Mädchen jedoch ist sicher nur scheintot. Die Nasenflügelchen, ei, seht doch, wie sie sich leise bewegen!»
«Und was ist das für ein sonderbares Ringlein?» sagte der Graf, hob sachte den Deckel und streifte den Ring vom Finger. Alsobald öffneten sich die Augen des Mädchens, sie atmete heftig, stützte sich auf und stieg aus dem Sarge.
«Was ist geschehen?» rief sie schmerzerfüllt. «Meine Freunde sind alle tot!»
«Weil sie ohne dich nicht mehr leben konnten», sagte der Graf, von ihrer Schönheit gebannt. «Willst du nicht meine Frau werden und auf mein Schloss kommen?» Treuherzig bot er ihr die Hand.
«Wenn du mich lieb hast, so will ich dir folgen und eine treue Gattin sein. Zuvor jedoch müssen meine Freunde bestattet werden.» «Mein Diener wird die Toten rechtmässig und in Ehren der Erde übergeben. Mein Gefolge erwartet mich, und wir reiten zusammen auf die Burg.»
Nach der Hochzeit liess der Graf das Gut der Räuber einziehen und den Armen zufliessen. Von Mutter und Schwester hat die holde Frau Gräfin nichts mehr gehört, als dass sie beide an einer hässlichen Krankheit gestorben sind.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.