Wer einmal diesen eigenwilligen und so über alle Massen farbentrunkenen Gletschersee mit dem seltsamen Namen gesehen hat, wird ihn nie mehr vergessen. An der Flanke des Aletschfirnes, die sich gegen das Fieschertal hin öffnet, lächelt und träumt er, eine Schale reinen Gletscherwassers, und tändelt mit den Eisbergen, die in seinen Fluten schaukeln, sich selbst genug.
Kein Baum steht in der Nähe, kein Haus, nicht einmal ein Hirtenschlupf. Die rauhen Höhen spenden etwa noch den Ziegen ein karges Futter; denn der Boden ist grösstenteils Stein und Geröll, und die grünen Inselchen sind trügerische Oasen, die nur ein kurzes, hartes Gras hervorbringen, das sich nicht entfalten kann. Auch im August friert der See noch jede Nacht zu, taut am Morgen auf und dunkelt bis auf den Grund zu jenem satten Enzianblau, das keinem andern See in den Bergen eigen und um so reiner und tiefer scheint, als es die weissen Eistürme umspült, an dem Leib des Gletschers nagt und Grotten höhlt, die, je nach dem Stand der Sonne, blaue, grüne, violette Wände spiegeln, so schimmernd klar und durchscheinend, als ob sie von innen heraus durchleuchtet würden.
In grauer Vorzeit war das Land um den See fruchtbare Weide. Ein Dörflein stand im Grund, die Lerchen jubelten, und der Dengelhammer schärfte das Sensenblatt. Dann scheuchten lange Winter und rauhe Fröste die Menschen in die Tiefe, und ihrer Hände Werk zerstäubte im Wandel der Zeiten.
Aus dem Fieschertal pilgerte ein frommes Ehepaar zum heiligen Meinrad nach Einsiedeln. In der Nähe von Rotenturm baten sie ein eisgraues Runzelmütterchen, das an der Sonne Bohnen rüstete, um Obdach. «Ich will die Mutter fragen und Euch Bescheid geben», sagte sie und stoffelte ins Haus. Wie alt wird wohl die Mutter dieser Greisin sein, werweisten die Pilger. Als sie an zwei Stöcken über die Schwelle krückte, war es nur ein Bündelchen Haut und Knochen, und ein heiseres Stimmchen piepste: «Kommt nur herein, und seid unsere Gäste! Bett aber können wir Euch keines abtreten.»
In der Stube erkundigten sich die steinalten Leutchen, woher des Wegs die Pilger kämen. «Wir sind aus dem Wallis.» «Aus dem Wallis? Wie sich das trifft!» «Aus dem Fieschertal.» «Ei, aus dem Fieschertal!» Die Mütterchen schlugen die Hände zusammen. «Dort sind wir aufgewachsen. Wer wohnt jetzt auf der Märjelenalp?» Die Wallfahrer stutzten. «Die Märjelenalp war ja doch, so lang wir uns besinnen, eine steinige Wildnis und nicht bewohnbar!» «O, wir haben dort Kirschen gepflückt, den schönsten Weizen geschnitten und Lindenblüten abgelesen! Freilich ist es lange her, wohl in die hundert Jahre. Drei Monate hatten wir Winter, die übrige Zeit ein mildes, bekömmliches Klima. Eines Tages, so Mitte Mai, das Gras in der ersten Blust, war der Brunnen übersilbert, und es blies ein rauher Nord. Da sind wir fortgezogen.»
Ebenso märchenhaft klingt es, was die Sennen von den bösen Wesen erzählen, die in dem See ihre Missetaten büssen, von Unlust und Langeweile gepeinigt, die Gletscherhüfte durchbohren, dem Wasser Tor und Schleusen öffnen, in die es stürzt und flutet und am Ausgang mit versammelter Kraft in die Schlucht sich ergiesst und weithin den Talboden der Rhone mitsamt den Hütten und Menschen tosend überschwemmt.
Ein Ziegenhirt war mit seiner Herde bis an den See gedrungen. Von dem Alpenvogt hatte er die Erlaubnis erhalten, am Euter eines Tieres, das er ihm jeden Morgen bestimmte, zu trinken. Wasser schmeckte nicht zu Brot und Käse, und die Portionen waren oft so knapp bemessen, dass er froh war um die Milch. Am Märjelensee legte er sich unter die erlaubte Ziege und erquickte sich an dem weissen Brünnlein. Da hüpfte das störrige Tier davon und liess sich nicht mehr einfangen. Die Sonne stach, und das trockene Brot wollte ihm nicht über die Zunge rutschen. Er fasste deshalb eine andere Geiss, die an seinen Schuhen den Hals rieb, kroch unter den Bauch und sog an der Zitze.
Ein Pfiff, und er schnellt auf die Füsse, wischt mit dem Handrücken den Mund und schaut sich um. Er sieht nichts und hört nichts mehr und wirft sich wieder auf den Rücken. Ein zweiter Pfiff, schärfer und länger als der erste, und wiederum steht er neben der Ziege, sperbert in der Runde, und es ist niemand, soweit die Augen schweifen. Es wird ein Murmel sein, und jetzt lass ich mich nicht mehr stören! Er schmatzt und strampelt vor Vergnügen, je geIler die Pfiffe tönen, um so gieriger verschlingt er den süssen Trunk.
Ziegenhirt - hat es nicht deutlich Ziegenhirt geklungen? Also doch jemand in der Nähe! Er lässt die Mutta fahren und wendet sich zum See. Aus der Wasserbläue ruft es: «Hirtenbüblein, versündige dich nicht an fremdem Gut! Ich war Hirt wie du und habe gefrevelt wie du, nun sieh meine Sühne!» Ein nackter Leib schoss in die Höhe und tauchte in die eisige Flut. Ein leises Gurgeln, Wellenschlagen, o Splittern, und der Spiegel ruhte in der vollkommenen Stille und Klarheit, als ob nichts geschehen wäre. Den Knaben schauderte. Er fuhr mit der Herde zu Tal und gelobte beim heiligen Wendelin, nie mehr zu tun, was nicht erlaubt wäre.
Man erzählt auch von einem Jäger, der, am See auf einen Murmel lauernd, von einer schönen Frau sich betören liess. Stundenlang sass er am gleichen Fleck vor der Höhle, die Flinte schussbereit auf den Knien. Der Tag verging, der Schatten der Eggishompyramide schwamm weit draussen im Wasser. Die Sonne zündete nur noch schräg zwischen zwei Bergstöcken, malte eine gelbe Strasse über den Firn, und ihre letzten Tropfen röteten die Kuppe eines treibenden Eisblockes.
Ihm war, als hörte er singen, nicht vom Bächlein, das anders musiziert, auch nicht vom Käfervolk, das die Schatten flieht. Vom See her drang es, ein Gesang, wie er ihn noch nie vernommen hatte, fremdartig, düster, wie Totenklage. Er richtete sich auf und spähte durch die Lucke, grad aus zum Seelein. Auf dem weissen Turme sitzt eine Jungfrau, schön und zart, mit wallendem Haar und blanken Armen. Sachte geht er vor, Schritt um Schritt, und schleicht näher. Ein Stein rollt unter seinen Füssen weg. Ein Schrei, und die Frau gleitet ins Wasser. Dunkel starrt der See, die goldene Strasse ist verglommen, der kalte Abendwind kräuselt die Flut.
Er ging nach Hause und trug das Bild der schönen Büsserin in seiner Seele, war am nächsten Tag wieder oben am See und harrte auf die Erscheinung, bis die Abendglut auf der Eisflotte erlosch. Tags darauf hing er gedankenlos die Flinte über die Achsel und stieg mit der Sonne zur Märjelenalp empor. Da er nie etwas Waidgerechtes heimbrachte, verstöbert war und grüblerisch, untersagte ihm die Mutter die Jagd und musterte ihn zur Arbeit.
Stürmisch und gewitterhaft brach der Morgen an. Lange vor der Mutter erhob er sich und schloss geräuschlos die Tür. Von der Fahrt ist er nicht mehr zurückgekehrt.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.