Gotwergini hiessen sie im Volk, Gotwergilöcher die Höhlen, in denen sie hausten. Woher der Name stammt, wessen Ursprungs die Wichtelmännchen, niemand wusste es. Gerne waren sie den Talleuten im Anfang zu Diensten. Wenn eine Kuh im Walde zurückblieb, eine Ziege sich verirrte, man sandte zu den Zwergen, und sie sagten, dort sei die Kuh, dort sei die Ziege und bezeichneten den Ort genau, wo das Tier weidete. Das Verhältnis trübte sich, und häufig wurden Klagen laut über die Streiche der Unholde.
In Kippel lebte eine Frau, namens Selber, die tagsüber spann, während der Mann taglöhnerte. Fast Tag um Tag schlüpfte ein Zwerg zu ihr ins Haus, ein garstiger Knirps mit schwammigen Backen und einem ekelhaften, in den Mund hängenden Schnurrbart. «Es beisst mich im Rücken», jaulte er, «hör auf und stell das Rad!» Er zerknüllte ihr das Werg, bremste den Schwung des Rades und begehrte trotzig, ihm den Rücken zu kratzen. Zuerst fühlte sie Mitleid und tat ihm den Willen, schliesslich aber gruselte ihr vor dem Unhold und dem lästigen Dienst, und sie beklagte sich bei ihrem Manne. «Wart nur», erwiderte er, «den will ich einmal hecheln, dass er über alle Wände hinauf springt!»
Er zog die Kleider seiner Frau an und setzte sich hinter das Spinnrad. Als das Männchen in die Stube torkelte, netzte er den Finger, allein, des Spinnens nicht gewohnt, glitt das Werg ihm nicht aus der Hand. Spöttisch tänzelte der Zwerg hin und her und stichelte:
«Du spinsterlest und spinsterlest und windest wenig a, mir schynt, mir schynt, du sygst e Ma!»
Zornig ergriff der Gefoppte die Hechel und ging auf den Spötter los. «Ich will dir jetzt die Flöhe vertreiben, du untaner Wicht!» So derb strählte er ihm mit den eisernen Borsten den Rücken, dass der Arme «zu Hilfe, zu Hilfe!» schrie und davonsprang. Gleich eilten die andern Zwerge herbei und fragten: «Wer hat's getan, wer hat's getan?»
«Selber, Selber», heulte er und verdrehte die Augen. Da sagten die Zwerge: «Selber ta, selber ha», und trollten sich.
Von da an lebten die Zwerge mit der Bevölkerung im Zwist. Schamlos drangen sie in die offenen Häuser und raubten Käse, Brot, Kleider, alles, was nicht niet- und nagelfest war.
Der Frechsten einer schleppte einen Knaben in seine Höhle und befahl seinem Töchterchen, den Gefangenen zu bewachen und zu mästen, damit er fett werde. Von Zeit zu Zeit ging er selber in den Stall und untersuchte ihn wie einen Hammel. «Zu wenig fett, zu wenig fett», sagte er jeweilen und empfahl dem Mädchen bessere Pflege. Sie aber war von sanfter, guter Art und wollte nicht, dass man den Jungen töte. Wenn der Vater ausging, schloss sie die Stalltür auf und liess ihn frei. Sie spielten zusammen und lärmten und jagten über Stock und Stein, bis sie müde waren. Dann brach sie Alprosen, wand ein Kränzchen und legte es dem Freund aufs Haupt, der schlau und verlegen an den Himmel hinauf guckte und an nichts anderes dachte als an die Flucht. Mit glänzenden Augen betrachtete ihn und rühmte: «Wie schön bist du, wie schön bist, mein lieber, lieber Bub!»
Aus seinem sonderbaren Benehmen erriet sie seine Gedanken und statt der Alprosen füllte sie die Schürze mit Silenbar, flocht eine Kette und band sie ihm um den Hals. Der Pflanze sollte die Kraft innewohnen den Jüngling verliebt zu machen und an sie zu fesseln. Beim Frühstück sagte er zu dem Madchen, das ihm da Essen brachte: «Lass mich hinaus, Wir wollen spielen und lustig sein!»
«Wart noch einen Augenblick, bis dass der Vater weg ist!» Bald War sie wieder da und lief mit ihm Jauchzend in die Sonne. Sie sammelten Zapfen und Steine, sprangen über den Wildbach, schäkerten und schwatzten tolles Zeug. Dazu flocht sie ein zierliches Gewinde aus Silenbar, das er wie eine Schärpe tragen musste. «Wie schön bist du wie schön bist du, du lieber, lieber Bub!» rief sie entzückt und verschlang ihn mit glühenden Augen.
Obschon er sich heilig vorgenommen hatte, so schnell wie möglich zu entwischen, er konnte das zutrauliche Ding nicht gröblich beleidigen und einfach davongaloppieren. Eine schickliche Gelegenheit bot sich erst, als sie einem Falter nachhuschte und immer weiter sich entfernte. Da riss er die Schärpe herunter, rannte wie ein Gemsböcklein durch die Erlenstauden und sah nicht mehr zurück.
Als das Mädchen ihn vermisste, sprang sie ihm nach, suchte hinter jedem Busch und Baum und wusste, dass sie ihn auf immer verloren hatte.
«Silenbar hat er an sich,
solang ich leb', gereut er mich.»
So tönte ihre Klage.
«Wo ist der Bub?» schnauzte der Alte, «die Stalltür ist offen!» «Ach, er ist fort und kommt nicht wieder.»
«Du Stock hast ihn laufen lassen!» Eine Maulschelle klatschte, und der Grobian trogelte davon und hetzte die Zwergenschaft auf den Flüchtling. Hu, wie das hangab stob und schwärmte, und bald waren sie dem Ausreisser an den Fersen.
Als dieser die Verfolger spürte, floh er auf eine geschorene Wiese und kroch in den letzten der Heuschochen hinein.
«Bis hierher ist er gekommen», riefen die Zwerge auf der Heumatte, «weiter nicht.» Sie zerrauften die Schochen ergebnislos und sagten: «Ist er nicht unter den ersten, so ist er auch nicht unter den Ietzten.» Enttäuscht klommen sie zu den Höhlen hinauf. Der Knabe schüttelte die Halme von sich und lief zu seinen Eltern, die schwer um ihn getrauert hatten.
Nach der Entladung der Alp versammelte das Zwergenvolk sich auf der Ballimatte zu Tanz und Schlemmerei, und heimliche Zuschauer berichteten von wunderlichen Reigen, Purzelbäumen und seltsamen Zeremonien, die sich im Mondenschein abspielten. Auch von dem Gastmahl, das um Mitternacht anhub und auf goldenem Geschirr herumgeboten wurde. Sobald der Tag anschlug, heulte der Kauz im Lärchenwald, und hui, hui rudelten die Zwerge davon.
Im Herbst erschien ein fahrender Schüler und wunderte sich bass, dass man das Gesindel nicht längst mit Stumpf und Stiel davongejagt hatte. «Es sind gottlose Wichte, die dem Teufel vom Karren rutschten und an andern Orten ausgerottet wurden. Sie sind nicht unseres Geschlechts, diese heimtückischen Kobolde. Schaut nur ihre verdrehten Füsse, den schiefen Rücken und den falschen Blick! Hinweg mit dem Geziefer!»
Schlagt sie tot, fort mit dem Lumpenpack, ging es von Haus zu Haus. Sensen klirren, Flegel poltern, die Jungen wappnen sich mit Knüppeln und was ihnen in die Faust passt, und wer Hosen und Schürzen trägt, wälzt sich den Berg hinauf zu den Gotwergilöchern. Kopftücher lodern, Steine flitzen, und aus dem hundertstimmigen Gebrause gellt es:
«Heraus, ihr garstigen Schelme und Kinderräuber!»
Hohl tönt es aus der Höhle zurück. Sie sind weg, sie sind geflohen.
Man stöbert und forscht bis in den dunkelsten Winkel und entdeckt nur Trümmer und Unrat. Niemand wusste, welchen Weg die Zwerge eingeschlagen hatten.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.