Auf der hintersten Staffel des Bagnestales liegt, dem Licht und der Sonne zugewendet, die Alp Charmontana. Der Saumweg geht darüber hin zum Col de fenêtres und jäh vom Pass hinab ins italienische Tal von Aosta. Der Col de fenêtres scheidet die Schweiz von Italien, hier Val de Bagnes, dort Valle d'Aosta, dazwischen weisse Gipfel, Felsen und Gletscher und das neutrale Geleuchte des Hochgebirges. Die Bagner sömmern ihre Kühe auf Charmontana, die rundum zur Walliserseite sich abdacht, und man erzählt, wie sie ihr Eigen gegen die räuberischen Nachbarn im Süden erstreiten und behaupten mussten, bis ihre Feinde eine gründliche Schlappe erlitten und ein für allemal genug hatten.
Der Pfarrer von Bagnes, ein gebürtiger Savoyarde, bekannte sich heimlich zu den Valdostanern, die damals unter Savoyen standen, und gelobte ihnen, seine Schäflein durch eine List ans Messer zu liefern. Am Auffahrtstag verkündete er auf der Kanzel, er werde am Sonntag nach Pfingsten eine lange ernsthafte Predigt halten, und jedermann, jung und alt, gesund und krank, möge sich im Kirchlein einfinden. Der Sonntag kam, und das Gotteshaus füllte sich bis auf den letzten Platz. Von allen Höhen und Tiefen waren die Leute auf beschwerlichen Pfaden herbeigeeilt, um zu vernehmen, was der Geistliche ihnen so Wichtiges mitzuteilen hätte. Bevor er auf die Kanzel stieg, befahl er, alle Türen zu verrammeln, damit sein Wort nicht verhalle, und dann geisselte er die Lehre Calvins, die von der Waadt her auch ins Wallis eingedrungen war. In tiefer Andacht lauschten die Zuhörer.
Einer nur war zu Hause geblieben, ein Soldat, namens Themistokles Guigoz. Eben aus französischen Diensten heimgekehrt, erachtete er es nicht für nötig, der Predigt beizuwohnen. Mit langen, knarrenden Soldatenstiefeln ging er in seiner Stube auf und ab und rauchte von dem Tabak, den er aus der Fremde heimgebracht hatte.
Plötzlich tröpfelte es rot und blutig von der Decke. Sein Zweihänder schwankte hin und her, als ob er sich aus der Scheide zwängen wollte, und längs der Scheide rieselte das Blut. «Kreuzsakerment, was soll das bedeuten?» Er schritt ans Gesimse. Nichts sah er durch die blinden Scheiben und riss deshalb das Fenster auf. Kreuzsakerlot - verdächtig Volk, das da den Berg herunterwimmelt, hier ein Fähnlein und dort eines, und ein Geblitz von Degen, Lanzen, Helmen - beim Eid, die Italienerschelme und Kuhräuber - und von den Unsern das letzte Bein in der Kirche! Kein Zweifel, es sind die Valdostaner in Wehr und Waffen und wollen uns den Schädel spalten. Ha, darum hat uns der Pfaff in die Kirche befohlen!Fluchend kracht er die Tür auf, stülpt den Helm aufs Haupt und löst den Zweihänder aus dem Haken. «Der Räuberbrut will ich eins einbrocken - fort, willkommen die Kurzweil!» Er eilt zum Stall des Nachbars, zieht den Schimmel heraus, der die Nüstern bläht und scharrt, schwingt sich auf den nackten Rücken, und vorwärts durch den Talfluss ans andere Ufer, unter den Nussbäumen durch ins Engnis des Weges! Es war höchste Zeit! Pferdehufe dreschen, die feindlichen Ausspäher reiten heran und fällen die Picke zum Stoss.
«Ha - alt!» donnert Guigoz, umklammert mit beiden Fäusten den Knauf seines Schwertes und lähmt die verdutzten Reiter mit seinem Blick. Die Pferde bäumen sich und bocken, es sprengt die Hauptmacht der Italiener heran.
Ein Schnalzen mit der Zunge, und mitten hinein galoppiert der Gewaltige, mäht links, mäht rechts, und was noch steht, hält die grausige Mahd in Bann.In gestrecktem Laufe jagt er ins Dorf zurück, zur Kirche, schlägt dreimal sein Schwert ans Portal. Päm - pim - pam, es wankt, fliegt auf, und hinein ins Chor reitet Guigoz der Kühne auf dem Schimmel, ohne Sattel und Zaum.
Die böse Wendung ahnend, ruft der Pfarrer: «Soll dieser Heide uns das Gotteshaus entweihen? Auf und ergreift ihn!»
«Zu den Waffen», überschreit der Soldat den Ruchlosen, «die Valdostaner sind da! Nieder mit dem Verräter!» Er sprengt davon, die Menge stürzt ihm nach, die Männer zu den Gabeln, Sensen, Axten, die Frauen aber, behend wie nie, sie raffen Asche und glühende Kohlen in ihre Schürzen und sind die ersten auf dem Kampfplatz.
Die Valdostaner wenden die Pferde, schreien, purzeln, wirren sich zum Knäuel, und im Geröll, das heute noch die Wüste heisst, erliegen sie den Streichen der Dörfler.
Vom ganzen Tross blieben drei Männer am Leben.- Dem einen stachen sie die Augen aus: «Lauf über den grossen St. Bernhard, und rühme, was du gesehen hast!» Dem zweiten schnitten sie die Zunge ab:' «Geh heim, und plappere von euren Heldentaten!» Dem dritten hieben sie die Ohren weg: «Zieh mit, und flunkere, was du gehört hast!»
Die Hütte des Themistokles Guigoz steht noch, unweit der Steinwüste, und der Zweihänder hängt in der Stube, gerötet vom Rost der Zeit, meinen die einen, vom Blut der erschlagenen Feinde, die andern, wer kann es ergründen?
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.