Wie Lötschengletscher entstand

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf der hintersten Staffel des Lötschentales, wo es «Zu den Bänken» heisst, wohnte jahraus, jahrein die Frau Bank mit ihren beiden Töchtern Marie und Seline, zwei Knechten und der Magd. Das Tal war eisfrei und die Hütte auf dem Grund, den heute der Gletscher überwallt. Vom Konkordiaplatz und dem Aletschfirn her wendet er sich westwärts und schiebt eine gewaltige Zunge hinunter ins Lötschental.

Vor siebenhundert Jahren ergrünte der Talboden bis an die Lötschenlücke hinauf und war fruchtbar, indessen die eigentliche Talsohle, die heute bebaut und bewohnt wird, von Wald und Geröll zur undurchdringlichen Wildnis gestempelt wurde.

Vor der Hütte der Frau Bank blühten Nelken, Geranien und goldene Ringelblumen, des Nachts brannte ein Feuer vor dem Stall, und es musste jemand wachen und schüren und mit dem brennenden Reisighaufen die wilden Tiere scheuchen.

Im August und in regenarmen Sommern schon früher, vertrockneten die Bäche; man war genötigt, das Wasser zuzutragen oder die Herde auf dem Petersgrat und der Lötschenlücke zu weiden und an den Seelein zu tränken, welche die Schneeadern speisten. Nur auf Schattenhalb, in den obersten Schründen des Bietschhornes, schimmerte blaues Gletschereis. Selten regnete es im Sommer länger als einen Tag, der Brunnen vor dem Hause sang immer leiser und leiser und nickte zuletzt in der Sonnenglut ein.

An einem heissen Hochsommertag pochte Lonza, ein fahrender Schüler, an die Hütte und bat um Speise und Obdach. Noch nie in ihrem Leben hatte die Mutter Besuch erhalten, und sie bewirtete den willkommenen Gast mit uraltem Käse, Brot und Rahm und ging mit ihm in der Morgenfrühe die rotversengten Matten empor. In das herrliche Leuchten des Gebirges staunend, dankte er für die freundliche Aufnahme und bedauerte, die prächtige Bergwelt verlassen zu müssen. «Gewiss ist es hier schön», erwiderte Frau Bank und kehrte sich gegen die weissen Bergspitzen, die, in blauem Duft schwimmend, das Tal übergipfelten. «aber wasserarm. Es ist nicht zu sagen, was wir unter der Trockenheit leiden. Sieh, wie der Boden dürstet, das Gras hart und spröde und glitschig wird!»

«Ja, leider fehlt es hier am Wasser. Ich will dir sagen, wie man die Dürre überwinden könnte. Die Natur ist wie der Mensch und doch wieder besser, sie lässt mit sich reden.»

«Das wär ein Glück!»

«Hast du eine reine Jungfer zu Hause?»

«Meine beiden Töchter sind rein wie der frische Schnee. Sie sind gestern mit dem Vieh zum Petersgrat emporgestiegen, wo ein Brunnen fliesst.»

«So soll die flinkere von sieben Gletschern ein Stücklein Eis brechen und die sieben Splitter auf dem Lötschenjoch der Reihe nach auf den Boden legen. Schmelzen sie nicht in der Sonne, so werden sie im Herbst und Winter wachsen und gross werden, und im nächsten Sommer hüpft ein munteres Bächlein haldab, und du hast Wasser die Fülle.»

Dankbar schenkte sie dem fahrenden Schüler aus dem Speicher ein Brot und ein Hauskäslein und stoffelte beglückt dem Hause zu.

Am Sonntag erschienen die Töchter, um Proviant zu holen. Die Mutter erzählte ihnen von dem freundlichen Ratgeber und wie sie froh wäre, wenn seine Prophezeiung in Erfüllung ginge.

Von dem Hunde bewacht, klomm Seline ans Bietschhorn hinauf, kraxelte von einem Gletscherchen zum andern, splitterte von sieben Eiszungen je ein Teilchen los, stieg auf die Lötschenlücke und steckte die Klumpen gleich weit auseinander in eine Reihe. Als die Schwestern nach einiger Zeit nachschauten, war das Eis schon fest angefroren und nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Bei der zweiten Besichtigung wuchteten die Eisstücke wie Geröllköpfe und im Spätherbst lückenlos von einem Ende zum andern. Von der Hütte aus erblickten sie den schimmernden Wall, der im Winter sich buckelte, allmählich zu einem kleinen Firn verbreitete und augenfällig grösser wurde. Schritt um Schritt kroch er in die Tiefe, und aus dem zerklüfteten Gletschertor rann ein milchweisser Bach, der dem fahrenden Schüler zu Ehren den Namen Lonza erhielt. Die Nächte wurden frisch, die Winter empfindlich kalt, der Brunnen vereiste, und vom Jägihorn herab pfiff und orgelte der Wind.

Bürstendicht sprosste im Mai das Gras, die Herde gedieh und litt nicht mehr an Trockenheit und Wassermangel.

Nach dem Tode der Mutter bauten Marie und Seline flussabwärts eine neue Hütte und teilten das Besitztum. Seline erhielt die obern Gefilde, von der heutigen Spitze des Zungengletschers an gegen die Lötschenlücke hinauf, Marie als die ältere, nicht mehr so bewegliche Schwester, die untere Hälfte des Tales mit den flachen Gründen. Bald fing sie an zu hadern, sie sei bei der Teilung überlistet worden, Seline habe den schönsten Bezirk an sich gerissen und ihr die streitbare Tiefe überlassen.

Allein noch zu ihren Lebzeiten schwoll der Gletscher in die Länge und Breite, frass sich unaufhaltsam abwärts und verschlang die fetten Weiden und das alte Haus «Zu den Bänken».

Viele Jahre später haben andere Leute an der Lonza Fuss gefasst und den grossmächtigen, talbeherrschenden Eisstrom Langgletscher oder Lötschengletscher getauft.

Die Lonza schwillt im Sommer zum ohrenbetäubenden Wildwasser, und Schafbuben, die am Rande des Gletschers hirten, vernehmen in hohen Zeiten die Mähder unter dem Eise, die ihre Sensen dengeln, und das Glockenspiel der Herde, die auf die Weide zieht.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)