Die Flocken fielen und woben die weisse Stille, den Dächern des Dorfes Schneemützen und über Wald und Weide, Hang und Ebene des Tales einen feierlichen Wintermantel, der Steg und Weg in seine Falten schlug. Der Wildbach wurde ein schläfriger Geselle, der nichts mehr zu sagen wusste und in der tiefsten Rinne träge dahinschlich. Auch die Menschen waren schweigsam geworden; ihre Rede tönte klanglos, die Füsse schleiften durch den hohen Schnee zum Stadel und dem Vieh, und die Berge mit ihrem harten, geisterhaften Schweigen, den frühen Schatten, sie dämpften noch die Stille.
Als der Senne der Alp Louvie den Hauskäse bereiten wollte, fehlte ihm das Werkzeug. Es lag wohlversorgt im Alpstafel oben, und da die Nachbarn ihre Geräte nicht entbehren konnten, versprach er demjenigen einen Ofen voll Brot, der auf die Louvie steige und den Brecher, Binde und Rührkelle herunterbringe. Selber getraute er sich nicht auf die Alp, denn in den einsamen Höhen ist es im Winter nicht geheuer; das weiss man, und die Wilderer erfahren es tagtäglich, wenn sie Murmeltiere graben und die Schneehühner jagen. Niemand mochte den heiklen Gang unternehmen als der arme Christoph, der ein Rudel Kinder zu speisen und zu tränken hatte und sich kümmerlich durch das Leben schlug. Er zog sein besseres, mit Agatefäden genähtes Kleid an und band die Schneeschuhe an die Füsse.
«Wo willst du hin?» staunte seine Frau, mit dem Jüngsten auf dem Arm.
«Das wirst du morgen erfahren, ich gehe Brot holen.»
Langsam stapfte er die Halde empor, eisigkalt flimmerten die Sterne; der Schnee silberte im Mondenlicht. Halbwegs zwischen dem Grund und den hängenden Tannen bog er zur Hütte des Fluhpeter, der von jeher ein Einspänner gewesen, und seit ihm Frau und Kinder weggestorben, sich in seine Klause eingesponnen und der Welt und ihren Lüsten freiwillig entsagt hatte. Der Kräuter kundig, braute er wirksame Säfte, heilte Knochenbrüche und schwärende Wunden und galt dem Volk als praktischer Arzt und Ratgeber für Leib und Seele, als aufrichtiger Freund und Gottesmann.
An die Tür dieses Weisen klopfte der arme Christoph.
«Wer ist draussen? Im Namen Gottes gebt Antwort!» scholl eine kräftige Stimme im Gemach. Christoph pochte ein zweites Mal.
«Wer ist da? Im Namen Gottes antwortet!» Ein drittes Klopfen.
«Wer du auch bist, im Namen Gottes tritt herein!»
Haare und Bart mit Eiszapfen bekränzt, trat Christoph in die warme Stube. Boden und Wände waren mit Fellen belegt, an einem Brett hingen Gems- und Steinbockgehörn, auf einem Lärchenstumpf trockneten Moose und allerlei Gewurzel. Eine Harzfackel leuchtete, die zerbrochenen Scheiben waren mit geöltem Papier überklebt. Auf Brust und Schultern flossen dem Eremiten die Silberhaare, die grobknochigen Hände ruhten auf einer Schrift.
Christoph erzählte, warum er zu ihm heraufgestiegen sei und fragte, was er tun müsse, den Alpgeistern die Stange zu halten. Aus einer Truhe kramte Fluhpeter eine Laterne, Sichel und Beil und legte es ihm in die Hutte.
«Ich frage nochmals, wie ich mich der bösen Geister erwehren soll», sagte Christoph und sah dem wortkargen Mann enttäuscht ins Gesicht.
«Was du nötig hast, liegt in der Hutte. Troll dich, und überlass es der Zeit und Stunde! Nur immer stramm den Fusspuren nach auf dem Rückweg, und was sich auch abspielen mag, schau nicht zurück! Nun geh mit Gott!»
Christoph stieg, stieg unaufhörlich, sichern Fusses. Zur Linken stürzte die Schlucht fast lotrecht, zur Rechten strebten die Felsen. Er band die Schneeschuhe los, hackte die Fersen in den steinharten Schnee, glitschte und glitt, stiess die Arme in die Luft und taumelte. Doch eine geheime Kraft riss ihn zurück, und wie am Seil gesichert, schritt er aus, gewann die Alp und den flachen Grund.
Müde gelaufen, steht er vor dem Stafel. Er schiebt den Riegel, hört ganz fern und leise den Schlag der Turmuhr in der Tiefe. Es ist Mitternacht. Die Laterne zündet, er entdeckt im Schein das gewünschte Geräte auf dem Tisch. Es ist ein runder Tisch. Da schaukelt der Kupferkessel am Feuerhaken und schwingt wie eine Turmglocke. Wie er den Arm ausstreckt, um den Brecher zu fassen, dreht sich das Tischchen im Kreise. Auf dem Dache poltert und klappert es, als ob eine Teufelsbande mit Pfannen und Küchengeschirr sich auf die Grinde schlüge, und durch das Getöse klingt es so schauerlich: Pack ihn - pack ihn - und dann: Ich kann nicht - ich kann nicht.
Kühl wie Schnee verstemmte er die Beine und schnappte nach den Gegenständen auf dem rasenden Brett, ohne etwas zu erwischen. Wozu hat mir der Fluhpeter Sichel und Beil mitgegeben? Er schwingt die Axt und zielt nach dem Brecher, der getroffen aus dem Kreise springt, zielt nach der Binde und zum dritten nach der Kelle, rafft das Zeug zusammen, huscht hinaus, riegelt ab und trappt in seinen Spuren heim. Die Teufel, die auf den Gräten und Höckern Posten stehen, rufen sich zu: Pack ihn - pack ihn - Ich kann nicht - ich kann nicht. Er überschreitet die Alpgrenze und hört den letzten verzweifelten Aufschrei: Ich kann nicht; sein Kittel ist über und über mit dem Faden der heiligen Agate genäht. Beim ersten Schlag der Frühglocke kratzte er vor seiner Schwelle die Schuhe ab. Er hatte einen Ofen voll Brot gewonnen.
Heute noch wird am Tag der heiligen Agate in der Talkirche mit dem Salz, das man den Tieren zu lecken gibt, auch der Nähfaden gesegnet.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.