Die Wasserjungfer
Ein Jüngling sass singend in einem Nachen auf einem breiten, reissenden Strome und ruderte aus allen Kräften, um schnell an das jenseitige Ufer zu gelangen, wo seine Geliebte, das schönste Mädchen des Stromtales, wohnte. Als er in die Mitte des Stromes kam, drang der Hilferuf eines Verunglückten an sein Ohr. Er blickte flüchtig hin und sah ein altes Weib mit den Wellen kämpfen, die es hinunterschlingen wollten ins nasse Grab. Er aber kehrte sich nicht daran und eilte, hinüberzukommen. Die Stimme klang immer flehentlicher, aber schwächer und leiser. Die Arme schwamm am Nachen des Jünglings vorüber, hinab, ihr Rufen verstummte.
Doch plötzlich, wenige Klafter vom Fahrzeug entfernt, tauchte sie leicht wie ein Nebelgebilde aus den Wellen empor, und es war keine hässliche Alte, sondern die schönste aller Jungfrauen, noch unendlich schöner als seine Geliebte, die schon harrend und winkend am Ufer stand.
Die Jungfrau im Strome aber rief zürnend: „Fahr immerzu! Fahr zu in Ewigkeit!“ Und sie schwamm spielend wie ein Schwan stromabwärts. Den Jüngling aber ergriff unnennbare Sehnsucht nach der Unvergleichlichen, die seine Sinne bezauberte. Er vergass der harrenden Geliebten und fuhr hinab, der Unbekannten nach, die in immer gleicher Entfernung vor seinen Auge dahinschwamm, nicht achtend auf sein liebeglühendes Rufen und nur von Zeit zu Zeit ihm vorwurfsvoll leuchtend schönes Antlitz zukehrend. Der Jüngling fuhr Tage, Wochen, Jahre stromabwärts, aber das Ziel seiner Sehnsucht vermochte er nie zu erreichen. Und so fährt er Immer noch zu, bis in die Ewigkeit hinein.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Senn, Ein Kind des Volkes, S. 53. Diese Erzählung hat Senn auch in die „Chelleländerstückli“ aufgenommen, Zürich 1864, S. 110 (Neudruck 1951), mit dem Titel: „Vom Chnab und d’m fröndä wiissä Mäitli“. In dieser Prägung schafft Senn wieder eine gewisse Beziehung zwischen der Erzählung und dem heimatlichen Leser, indem er den Strom „vill breiter weder d’Töss“ schildert.
Erzählerin: Die Mutter Senns. Seine Mutter scheint keine geborene Erzählerin gewesen zu sein. In seiner Lebensbeschreibung erklärt er: „Dazwischen (beim Weben) erzählte sie mir manches Geschichtchen, wovon sie meist den Anfang oder das Ende oder ein Bindeglied verloren hatte, in welchem es mir Vergnügen machte, die defekten Stellen sehr sinnreich zu ergänzen.“ Er tönt auch an, dass er viele Geschichten und Lieder von seiner Mutter gelernt habe. Aber im Gegensatz zu Jakob Stutz scheut er sich, diese Geschichten in seiner Selbstbiographie zu erzählen.
An dieser Stelle möge es K. W. Glaettli gestattet sein, darauf hinzuweisen, dass Stutz in seiner Lebensbeschreibung von Seite 41 bis 52 Sagenstoffe in Balladenform wiedergibt. Die Rezitatorin ist wiederum Bas Anneli. Es sind wildromantische und herzzerbrechend traurige Geschichten und Schicksale darin geschildert. Allein, da die Ballade sich ja von der Sage schon rein formal, dann aber auch funktional und stofflich unterscheidet, verzichtet er auf diesen Balladenschatz, der sicher an geeignetem Orte sinn- und zweckvoll verwendet werden kann.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.