Gründung der Stadt Rapperswil

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war ums Jahr 1200. Wo heute die freundliche Rosenstadt steht, standen damals nur einige Fischerhütten. Der Ort wurde Endingen genannt. Der Seedamm war noch nicht erstellt, nicht einmal die hölzerne Brücke, die über den See nach der Halbinsel Hürden führte; die Fischer vermittelten allen Verkehr mit ihren Booten.
Dort drüben, etwas südwestlich vom Dorfe Lachen, stand die Burg Rapperswil, und in dieser wohnte Graf Rudolf, beliebt bei allem Volke, angesehen und reich. Als er einst von einer weiten Reise zurückkehrte, schlug ihm sein Vogt vor, an einer günstigen Stelle eine neue Burg zu bauen und zwar bei Endingen, auf dem aussichtsreichen Lindenhügel, wo ein fester Platz gut gegen jeden Feind zu Verteidigen wäre und wo man auch eine Stadt anlegen könnte, die dem Bürger die wünschbare Sicherheit gewähren möchte.

Graf Rudolf machte sich sofort mit all seinem Gefolge auf, den Ort zu besichtigen. Wie sie zur Stelle kamen, spürten die Jagdhunde eine Hindin auf, die am Hügel in einer Höhle ihre zwei Jungen heckte und mutig verteidigte. Die Gräfin erbarmte sich des mutigen Tieres und bat, dass man die Hunde entferne. Als sich dann die vornehmen Gäste niederliessen, um für einen Augenblick auszuruhen und die schöne Aussicht zu bewundern, kam die Hirschkuh zutraulich herbei und schmiegte sich an die Edelfrau, um ihr die schuldige Dankbarkeit zu bezeugen. Der Graf liess hierauf die zwei jungen Hirschlein aufs Schiff bringen, sie in seinem Schlossgarten zu bergen; zufrieden folgte ihre Mutter. Und gleich am andern Tag brachte das Schiff die Bauleute herüber, die den Wald schlugen, die Stämme glätteten und die Stadt bauten. 
P. Guler.

***

Die ursprüngliche Fassung der Sage stellt die Gräfin in einem weniger  günstigen Lichte dar. Die Frau sei ihrem Manne untreu gewesen, und der Vogt habe sie dessen anklagen wollen. Der Graf aber habe ihm gleich bemerkt: "Sag mir, was du willst, lieber Vogt, sag mir nur nüzit Böses von minem Wyp; denn wo ich bin und an ihre Schönheit gedenke, erfrewet sich all myn Gemüt, und was mir für Kummer und Widerwärtigkeit zu Händen stosst, ergötzt mich die Holdseligkeit myner Frawen, dass ich alles Leids vergesse, und frewt mich, so oft ich wieder zu Hause soll."

Darüberhin hätte der Vogt die Rede gewendet und obigen Vorschlag gemacht.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 404, S. 233

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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