Es war einmal ein junger Herzog, der war überaus fromm und gut, aber er wollte durchaus nicht heiraten. Schliesslich nahm er auf das ausdrückliche Begehren seiner Mutter eine Prinzessin zur Frau. Am Hochzeitstage betete der junge Bräutigam, der liebe Gott möge ihn doch rein bewahren.
Am Morgen desselben Tages erschien bei ihm ein schöner Jüngling und anerbot sich als Koch, und der Herzog stellte ihn als solchen an. Durch sein frommes und holdseliges Betragen machte sich der Jüngling bei den Leuten am Hof und besonders beim Herzog recht herzlich lieb, und dieser bat ihn, er möge doch immer an seinem Hofe bleiben.
Am dritten Tage, nachmittags, erklärte der Jüngling, seine Stunde sei gekommen, er müsse wieder nach Hause. Der Herzog begleitete ihn allein eine Strecke Weges. Da kamen sie unter heiligen Gesprächen unvermerkt auf eine grüne Heide, die ganz mit Rosen und Rosmarin bewachsen war und von Balsam duftete. Unter einem Palmbaum stand ein weisses Maultier. Der Jüngling löste es ab und bat den Herzog, er möchte sich darauf setzen. Das tat dieser, und alsobald schwang sich auch der Jüngling hinter ihm auf das Tier. Da war es dem Herzog, als ob er durch die Luft schwebe. Bald sahen sie in der Ferne eine prächtige Stadt, und gleich darauf kamen sie an ein goldenes Tor, welches mit Edelsteinen besetzt war. In der Stadt drin strahlte ein Glanz und eine Herrlichkeit, als ob tausend Sonnen schienen. Von allen Seiten hörte man Musik und Gesang, und weissgekleidete Jungfrauen mit Blumenkränzen um die Stirn gingen durch die mit Gold besetzten Strassen. Diese Jungfrauen empfingen den Herzog mit Jubel und Freude. Keine Feder vermag zu beschreiben, was er da Schönes und Herrliches zu sehen bekam.
Der Herzog wäre gerne da geblieben, aber sein Führer bemerkte ihm, auch seine Stunde sei nun gekommen, er müsse nach Hause, aber er werde wohl bald wieder kommen dürfen.
Als der Herzog wieder heimkam, fand er seinen Palast in ein Kloster verwandelt. Er klingelte an seiner Pforte. Ein Klosterbruder in langem, schwarzem Gewande trat hervor, und der Herzog fragte ihn, was sie da machen, oder ob er sich verirrt habe. Er sei heute mittag von zu Hause fortgegangen, und nun zur Vesperzeit sei er wieder da und finde das herzogliche Schloss nicht mehr, in dem er doch Herr und Meister sei. Der Bruder antwortete: „Hier regiert ein Abt Ich will Euch zu ihm führen.“ Aus dem Gespräch mit dem Klostervorsteher ergab sich, dass der junge Herzog 300 Jahre fortgewesen und jener Jüngling ein Engel gewesen sei, der ihn in den Himmel geführt habe.
Die ganze Geschichte von seinem Verschwinden sowie den Tod der Herzogin und der Mutter konnte er selbst auf einem Denkstein lesen. Man veranstaltete auf das Wiederfinden des Herzogs ein grosses Freudenfest, und dieser musste an der Tafel zuoberst sitzen. Als er aber ein Stücklein Brot in den Mund nahm, wurde er plötzlich zu einem uralten Manne - und starb.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Stutz, S. 39. Vgl. Jegerlehner, Sagen und Märchen aus dem Oberwallis, S. 276, „Vom Prior, der 308 Jahre geschlafen hat“. — Erzählerin: Bas Anneli. Wir begeben uns an die Grenze des eigentlichen Sagengebietes. Namen, Örtlichkeiten und Zeit werden so unbestimmt, die Sprache dichterisch, dass wir die Erzählungen auch unter die Märchen zählen können. Vgl. „Das schneeweisse Steinchen“.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.