Der Ziegenhirt und das Weinfass auf der Alp

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Über dem hängenden Wald türmen sich die Felsen, und glitzern am Mittag wie silberne Ketten die Schneebäche, die niederschäumen und in waghalsigen Sprüngen immer tapferer und beherzter in die Gruseltiefe stürzen. In einer Mulde schimmert noch Schnee, den nur die Augustsonne schmilzt. Der schöne Kummen heisst sie, und jedes Kind weiss von dem Dörfchen Helminen zu berichten, das in alter Zeit dort oben klebte. Vor einigen Jahren haben Strahler in der schönen Kummen einen Mühlstein, Fensterrahmen und Spuren einer gepflasterten Strasse entdeckt, und Ahasver soll auf seiner Irrfahrt durch die Schweiz in Helminen den besten Rotspon getrunken haben.

Reben säumten es, und in den Obstmatten hingen die saftigsten Früchte. Auf hilbe Winter folgten Fröste, nasskalte Sommer, Reben und Obstgärten erfroren, das Korn reifte nicht mehr, die Bewohner verliessen Haus und Hof und siedelten sich in der Tiefe an.

In den Fluren von Helminen sömmerten sie noch das Vieh, und das war immer noch eine schöne Zeit, im Herbst vor allem, wenn Käse und Butter in hohen Beigen an die Geteiler abgezählt wurden und man immerzu neue Stadel bauen musste, um den Alpsegen aufzuspeichern. Man molk die Kühe dreimal im Tag, die Sennen prahlten und prunkten, erlustigten sich bei Tanz und Kegelspiel und liefen, voll Galle gegen den Herrgott, von Suff und Spiel weg zu den Ställen, um das Vieh zu melken und zu hirten.

Einstmals bewirteten sie einen fahrenden Schüler mit Rahm, Butter und wildem Honig und schimpften über die Fruchtbarkeit, den Überfluss und die bittere Arbeit, die ihnen das Vergnügen schmälerten. Noch nie hätten sie sich so recht weidlich satt tanzen und austoben können. Mitten im schönsten Trubel müssten sie auf und davon und unter die Kühe hocken.

«Welches sind die besten Milchkräuter? Schenkt mir einen Käse, und ich breche die Ketten, die euch bedrücken. Ihr sollt tanzen und der Kurzweil frönen, meinethalb bis zum jüngsten Tag.»

So hoch und dick wie ein Mühlstein rollten sie einen Käse herbei, und der Schüler satzte auf einen Felsblock, hielt die hohlen Hände vor den Mund und rief:

«Verwünscht sei Mutrina und Hahnenfuss, weil ich dreimal zum Melken muss.»

Von dem Tag an frass das Vieh nicht mehr wie sonst, verschmähte die verfluchten Kräuter, zehrte ab und geizte mit der Milch, das Weidegras welkte im Sonnenbrand, die steinige Erdrinde trat zutage, die Alp verwilderte und konnte nicht mehr bestossen werden. Auf der schönen Kummen treichelten keine Kuhglocken mehr, Rosenbüsche wucherten, Steine klotzten im Boden, die Asung war spärlich, grad noch gut genug für die leckermäuligen Ziegen. Nun geschah etwas Merkwürdiges. Wie nur alle hundert Jahre einmal, ein richtiges Märchenwunder.

Mit den eigensinnigen Meckergesellen war Alefons den Berg emporgehoppelt, durch Mattland, Gehölz und Krüppelföhren. Auf der schönen Kummen liess er die Ziegen schmausen, schnitzelte ein Schiffchen, rammte den Mast hinein und machte es flott im Bache, der eben überlief und das Spielzeug schaukelte. In seiner Phantasie vergrösserte sich das Wässerchen zum Fluss, die Baumrinde zum Meerschiff. Er musste seinem Fahrzeug eine Zuflucht schaffen, rundete das Ufer zu einer Bucht und knüpfte das Ankertau um einen Pflock. Er musste es beladen und regelrecht mit einem Steuer und Kaufmannsware ausstatten. Ein Hammer war bald gestielt, bunte Steine glitzerten in den Fluhbändern. Mit dem Klopfer brach er einige hübsche Kristalldrusen aus dem Fels und befrachtete das Schiff. Jetzt vorwärts und Heil zur guten Fahrt!

Eine Weile trottete er dem Boote nach, und als es in einer Stromschnelle kreiste und mit Mann und Maus unterging, war ihm das Schifflein verleidet. Er klomm auf einen einsamen Steinknutsch, der ihm seiner ovalen Form wegen schon gestern aufgefallen war und legte sich platt auf den Rücken. Sanft fielen die Lider auf seine blauen Augensterne und ihm träumte, er sei Matrose, Kapitän, alles in einer Person, auf einem schlanken Dreimaster. Er landete in einem verlassenen Hafen, musste selber den Anker bedienen, das Schiff ans Land ziehen, die Waren löschen und in die Stadt buckeln. Komisch, diese Stadt. überall sind Aufschriften angebracht: Zum Gemsbock - Gemeindeschreiberei von Helminen - Herberge zu den 127 Ziegen. Das schönste weitum aber waren die Reben, die gegen Mittag über die Hänge sich spannen, an die Häuser in den ersten Stock hinaufrankten und mit dunkelblutigen Trauben behangen waren. Als er eine pflücken wollte, erwachte er, hörte den friedlichen Singsang der Ziegenschellen, setzte sich rittlings auf den Block, und mit dem Hammer spielend, wob er den Traum weiter. Ärgerlich, dass er zerronnen und überall die rauhen Felsgrinde ihn unstarrten, klopfte er wuchtig in den Stein, und der Duft von rotem Wein stieg ihm in die Nase. War der rundliche Block am Ende ein Gebinde, ein Weinfass aus Helminen? Flugs drehte er sich auf den Bauch und spähte durch die Öffnung, leckte mit der Zunge, tauchte den Schaft hinunter und zog ihn nass und tropfendrot wieder heraus. Kein Zweifel, die Kufe ist im Laufe der Jahre zu Stein erhärtet und hat den Inhalt aufbewahrt. Wunderbar, ganz wunderbar!

In grösster Aufregung ragelte er die Halde hinab, schnitt im Wald ein Röhrchen, keuchte zum Fass zurück, sog und schlürfte von dem köstlichen Saft und überlegte, ob er seine Entdeckung verraten, ob er den Wein verkaufen - den Mund halten wolle, sonst kappt man ihm den Lohn, der ohnehin mager genug ist Zu Käse und Brot schmeckte der Wein ausgezeichnet. Oder ist es vielleicht ein Teufelsscherz und nur noch  lauteres Wasser in der Tonne? Er schob das Rohr wieder in das Loch, sog und schluckte, Sapristi - Wie der Himmel sich drehte, die Berge komische Fratzen machen und die Abendsonne ihre Backen aufbläst, genau wie die Pfarreresköchin, wenn sie die Wäsche trocknet. Dann sah er nichts mehr und fiel wie ein wurmstichiger Apfel ins Gras.

In der Nacht wollte er die Decke an den Hals hinaufziehen, weil ihn fröstelte. Er riss und zerrte und sperrte die Augen auf. Glühwürmchen zwinkerten an der Decke und wurden gross wie Sterne. Er stützte sich auf, hörte den Wildbach rauschen und sah den Himmel über sich gespannt. Jemine, er war noch oben in der schönen Kummen, einsam und verlassen, die Ziegen waren ohne Führer nach Hause getrippelt, als es Zeit war. Er stieg in den Wald hinunter und rollte sich in die Nische eines Baumstumpfes.

Am Morgen lief er in die Sonne und erwartete den Kameraden, der an seiner Statt die Ziegen auftrieb. Er habe den Fuss verstaucht und vorgezogen, in der Höhe zu bleiben, flunkerte er dem Gefährten und hinkte zum Schein.

«Halt dich still und schone deinen Fuss, ich geh gleich wieder ins Dorf zurück, und beruhige deine Mutter, die dich suchen liess.»

Alefons warf sich in den Rasen, streckte die Glieder aus, so wirr und blöde war ihm noch und gelobte, dem Wein und seinem höllischen Wiriwäri zu entsagen.

Bevor es dunkelte, trieb er die Herde ins Dorf hinab, und nach einer gesunden Nacht auf dem heimischen Strohsack fühlte er sich wieder munter. Aus Grossvaters langer Pfeife schraubte er das Rohr und barg es unter dem Kittel. «Hüho, ihr gefrässigen Nascher!» Er schwang die Rute und stieg mit dem bimmelnden Rudel durch Wald und Flur hinauf zur schönen Kummen. Am Ziel angelangt, hüpfte er auf das Fass, steckte das Pfeifenrohr ins Loch sog und spuckte das Gemisch von Wein und Tabakssaft aus dem Munde, warf die

Pfeife weg und holte sich ein anderes Saugrohr im Walde. Jetzt konnte er trinken wie am Bergquell. Das muss aber gesagt sein er verzehrte sein Mittagessen dazu, den harten Käse und die Krume Schwarzbrot, und erst beim Zunachten, bevor er zum Rückzug pfiff, ging er noch einmal aufs Fass und trank sich einen Rausch an.

So geschah es, dass er jeden Abend angesäuselt nach Hause taumelte, irre Reden führte und beim Ziegenstall die Weiber anschrie, wann die Aufschrift angebracht werde: Herberge zu den 127 Geissen.

Was für ein böser Geist in den Hirten gefahren, man konnte es einfach nicht fassen. Im Krämerladen, am Brunnen, allüberall war ein eifriges Raten, Werweisen, Verhecheln. Niemand wollte ihm Wein oder Gebranntes verabreicht haben, und doch war der Strick regelrecht betrunken und plapperte in seinem Dusel unaufhörlich von einem Weinfass, das ihm der Herrgott in Helminen beschert und dem roten Saft, der von aller Pracht und Herrlichkeit übriggeblieben sei. Man schüttelte den Kopf ob dem wirren Gestackel und hob die Stirne zu der schönen Kummen hinauf; kein Mensch glaubte eine Silbe von dem albernen Gestammel, und doch musste etwas Wahres an der Sache sein, denn Abend für Abend war Alefons bezecht.

Am Sonntag trieben ihrer zwei die Ziegen, Alefons und der Dorfpräsident. Wohl oder übel musste er ihn zu dem Weinfass führen. «Da, hier war es», sagte der Ziegenhirt und griff an die Stirne. «Ich bin doch stocknüchtern und täusche mich nicht.» Er schaute ringsum und wieder auf den graslosen Fleck am Boden. «Hier war das Gebinde, und nun ist es weg, ei, wie merkwürdig!»

«Sei froh», sagte der Präsident, «sonst wärst du ein Säufer oder ein Nichtsnutz geworden.»

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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