Das Vögelein von Kyburg
Als auf der Kiburg noch die Grafen hausten, lebte im Tösstal unter eine hübsche Bauernstochter. Die verschmähte den Heiratsantrag eines reichen Bauernburschen, weil sie heimlich einen jungen Grafen liebte, mit dem sie sich oft traf. Den Jüngling quälte die Eifersucht, und er schlich seiner Angebetenen eines Tages nach, ertappte sie auch mit dem Grafen. Stracks lief er aufs Schloss und meldete dem alten Grafen, was er gesehen.
Der Alte sperrte den Sohn einen Monat lang ein. Dieser aber wusste sich und seiner Geliebten zu helfen. Als Jäger verkleidet wurde die Jungfrau heimlich aufs Schloss geführt. Doch die Freude hatte auch ihre Folgen, und das Kind getraute sich nicht mehr nach Hause.
Nun fasste sich der junge Graf ein Herz und gestand dem Vater seinen und des Mädchens Umstand. Der Alte wollte aber von einer Heirat nichts wissen und sperrte beide in den Turm. Einige Zeit später ritt der Vater mit dem Sohn nach Winterthur. Diesen Anlass benützte ein vom jungen Grafen gedungener Jäger, die Geliebte nach Hause zu bringen. Die Mutter aber schlug ihre Tochter und schickte sie aus dem Hause. Das Mädchen irrte einige Zeit im Walde herum und genas hier des Kindleins. In seiner grossen Verzweiflung wusste es nicht wohin damit, tötete und verscharrt es. Selbigen Tags ritt der alte Graf durch den Wald und entdeckte das Geschöpf mit den blutigen Händen. Der wüsste bald was Lands und sperrte die Mörderin ein. In der Nacht aber befreite sie ein Vertrauter des jungen Grafen. Sie lief und lief und sank endlich entseelt vor der Pforte des Klosters Töss zusammen.
Seither zeigt sich immer am Sankt-Othmarsabend dort, wo das Unglück geschah, ein Vögelein in der Grösse einer jungen Taube, dunkelgrau, mit weisser Brust; blutrot leuchten seine Füsse und Flügelspitzen. Oft wollten die Jäger den seltenen Vogel, der keinem bekannten glich, fangen. Keinem ist es gelungen. Wer gar darauf schoss, dem zersprang das Schiessgewehr.
Im dichten Gesträuch nah am Steg über die Töss haust es in einer verdorrten Eiche. Kein Tier nähert sich diesem Ort. Am Sankt-Othmarsabend steigt ein blaues Flämmlein daraus in die Höhe. Viele haben den Vogel schon gesehen. Oft sitzt er am Kerkerfenster und pfeift traurige Töne über den Wald hinab. Der Schlosskaplan sagt, das sei die verdammte Seele des Mädchens. Er meint, die Bussezeit nähere sich dem Ende, denn vor altem sei der Vogel schwarz gewesen und habe auf der weissen Brust drei rote Blutflecken gehabt.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
„Alpenrosen“ 1812. Die Sage ist dort eingekleidet in eine spätere, offenbar erfundene Rittergeschichte. Autor unbekannt. Für diese Sammlung hat K. W. Glaettli die Sage vom Vögelein aus der Rahmenerzählung gelöst und den schwülstigen Stil etwas vereinfacht.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.