Als das vor einigen Jahren verstorbene "Finkentonibabeli" noch ein kleines Mädchen war, ging es mit den Eltern auf den Acker im Benkenriet. Nun schickten sie es zum Brunnen unter der Breiten, um dort Wasser zu holen. Der Weg führt bei der Burg vorbei, dem kleinen Hügel, wo vor Jahrhunderten die Wandelburg gestanden.
Da erschien dem Kinde eine wunderschöne Frauengestalt, welche sich zu ihm neigte und fragte, ob wohl der Vater nicht lieber einmal Wein möchte. Das Kind fing an zu weinen und sagte: "Mein Vater ist arm und kann keinen Wein kaufen!" Diese Antwort gefiel der Frau; sie nahm das Kind bei der Hand und führte es zu einer schweren, eisernen Türe im Felsen. Geräuschlos öffnete sich diese, und nun befanden sie sich in einem weiten Gewölbe, wo zwei lange Reihen der schönsten Fässer lagen; ohne Zweifel war es der Schlosskeller der Wandelburg. Bei einem Fass mit zwei schön geschnitzten Rosen standen sie still; die Frau berührte es mit einem goldenen Stäbchen, und nun floss goldfunkelnder Wein heraus.
Treuherzig staunte das überglückliche Mädchen die liebliche Gestalt an, wie wenn es fragen wollte: "Wo bin ich, und wer bist du?" Da küsste sie das Kind auf die Stirn und sprach:
"Ich bin das Burgfräulein Friederike von Wandelburg und kann nicht zur Ruhe kommen, wenn nicht ein unschuldiges Kind wie du mir dazu verhilft. Du kannst es, wenn du tust, was ich dir sage. Dann sollst du auch so schön werden, wie du mich siehst, und alles, was hier ist, und noch viel mehr soll dir gehören."
Das "Babeli" wusste fast nicht, wie ihm geschah, und sagte freudig zu, worauf das Burgfräulein zum Aufbruch mahnte. "Bring deinen Eltern zu trinken," sagte es; "heut abend aber, während des Ave-Maria-Läutens, erwarte ich dich wieder bei diesem Stein, wo du jetzt stehst, aber nur dich allein."
Als "Babeli" um sich schaute, war das Fräulein und alles verschwunden; das Kind stand wieder allein auf dem Fussweg vor der Burg.
Hurtig eilte es aufs Benkenriet. Dort wollten Vater und Mutter es wegen dem langen Ausbleiben zur Rede stellen, und als sie den feurigen Wein aus dem "Milchkesseli" tranken und hörten, daß es ihn geschenkt bekommen, meinte der Vater: "Es ist schade, daß du keinen grössern Kessel bei dir hattest." Als aber das Kind ihnen sagte, an Wein und allen guten Sachen werden sie künftig keinen Mangel haben, und als es erzählte, was es gesehen und gehört, da regte sich die Begehrlichkeit in den Leuten. Sie bauten bereits allerhand Luftschlösser und träumten von einem schönen, sorgenfreien Leben, von süssem Nichtstun und gut' Essen und Trinken.
So brach bald der Abend heran, und sie machten sich auf den Heimweg. Noch waren sie ziemlich weit von der Burg entfernt, da fing die Betglocke zu läuten an. Das Mädchen lief, so viel es konnte; doch als es zur Burg hinkam, war das Läuten schon verklungen, und das Burgfräulein war nirgends zu sehen; "Babeli" hatte sein Glück und zugleich dasjenige des Burgfräuleins verscherzt.
Das "Finkentonibabeli" hat sich zu einer lieblichen Maid entfaltet, der schönsten weit und breit, und ihres Bleibens war nicht mehr zu Hause. Sie ist weit fortgezogen und eines reichen Junkers schöne Frau geworden. Doch das Glück war nicht mit ihr; sie ist vor wenigen Jahren in Not und Elend gestorben und liegt in fremder Erde. Ihre Eltern aber ruhen auf dem Friedhof von Benken.
Ant. Kühne.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 385, S. 219
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.