Der Oberländer Zigerkrämer
Der Bruder von Dorothees Grossvater handelte viele Jahre mit Ziger und trug ihn im Rückenkorb weit im Lande feil. An einer Spinnstubete erzählte Dorothee von diesem Hausierer eine schauerliche Geschichte, deren Wahrheit sie versicherte, so wahr sie dasitze und spinne!
Da sei er dann einmal auf seiner Tour ganz unvermerkt in die Türkei hineingeraten und sei dort in ein vornehmes Haus hineingetreten, um zu fragen, ob man Ziger brauche. Die Frau habe geantwortet, er solle nur einen Augenblick warten, sie wolle den Mann fragen. Der Mann sei dann gekommen und habe bemerkt, der Zigerkrämer solle mit ihm in die Wohnung hinaufkommen.
Wohl zwanzig Treppen sei es hinaufgegangen. Dann hat der Mann eine vergoldete Türe geöffnet und ihn in ein Zimmer geführt, wo eine solche Pracht herrschte, dass der Krämer gemeint habe, er sei im Himmel. Wie er aber sich vom Staunen erholt hatte und dem Hausherrn seinen Ziger antragen wollte, war dieser verschwunden. Als lange niemand mehr erschien, schickte der Krämer sich an, das Zimmer wieder zu verlassen. Aber es war verriegelt. Alles Rufen und Klopfen nützte nichts; keine Seele gab ihm Bescheid. Erst jetzt bemerkte er, dass die Fenster alle vergittert waren. Schliesslich schlief er vor Angst ein. Als er wieder erwachte, lag er in einem anderen Zimmer auf einem schönen Bett. Er schaute sich erstaunt um und hörte dabei jemanden schnarchen. Da habe er gerufen: „Hee, Kamerad!“ Der andere sein plötzlich erwacht und habe geantwortet: “Gut Freund!“
Beide freuten sich und jeder glaubte, am andern einen Helfer gefunden zu haben. Aber keiner wusste weder sich noch dem Kameraden einen Rat. Dann erzählten sie einander, wer sie seien und woher sie kämen. Da habe der andere erzählt, er sei Pfarrer im Züribiet; er habe in Basel seinen Bruder besuchen wollen, sei vom rechten Weg abgekommen und unversehens in die gottlose Türkei hineingelaufen. Sei bei Nacht und Nebel bei diesem Haus angekommen, habe angeklopft und gefragt: „Hee, ist das der rechte Weg nach Basel?“ Man habe ihm freundlich zur Antwort gegeben: Ja freilich, er solle nur hereinkommen, es werde ihm jemand zünden bis nach Basel hinein. Er sei hineingegangen und holdselig aufgenommen worden. Im Augenblick habe die Frau vom besten Wein, Käs und Brot und Fleisch gebracht; er habe müssen zu Tische sitzen und essen, und der Mann und die Frau hätten ihm fleissig zugetrunken. Zuletzt, als er habe gehen wollen, habe die Frau ein Gläslein Schnaps aufgestellt, das er unbedingt habe austrinken müssen. Das könne nichts anderes gewesen sein als Schlafwasser, denn nach dem ersten Schluck habe er schon nichts mehr von sich selbst gewusst. Als er am folgenden Morgen aufgewacht sei, sei er eben da in diesem Bett gelegen, habe aufstehen und in die Stube hinabgehen wollen, aber die Türe sei verriegelt gewesen und geblieben bis auf diesen Augenblick. Nun schmachte er schon ein Vierteljahr in dieser Einsamkeit und wisse nicht, was man mit ihm vorhabe. Zu essen und zu trinken habe er genug; täglich werden ihm die besten Speisen durch jenen kleinen Laden hereingegeben. Aber keine Seele sei noch zu ihm gekommen, und der Zigerkrämer sei der erste, den er seither sehe.
Die beiden Gefangen mussten noch weitere fünfzehn Wochen in ihrem Zimmer bleiben. Dann erschienen zwei Türken bei ihnen, griffen an ihnen herum, redeten aber kein Wort mit ihnen, so etwa wie die Metzger mit den Kälbern tun, wenn sie schauen wollen, ob sie zum Schlachten fett genug sind. Beim Pfarrer mochten sie immerfort lächeln, der Zigerkrämer aber sei seiner Lebtag brandmager gewesen und geblieben.
Da, was geschah? Komme in derselben Nacht eine Magd an das Esslädelein und flüstere, morgen werde der Pfarrer gemetzget und der andere, sobald er fett genug sei. Dem Krämer wurde es wind und. weh, doch der Pfarrer lachte nur. Nachts, als es an der Kirche halb zwölf schlug, spreitete der Pfarrer seinen Mantel auf dem Boden aus und sprach zu Grossättis Bruder: „Jetzt komm und lege dich neben mich hieher!“ Als beide so auf dem Mantel gelegen, sagte der Pfarrer: „Jetzt wünsche ich, dass wir morgen, wenn die Sonne aufsteht, gerade so nebeneinander liegen auf dem Wangener Ried!“ Dann schliefen sie ein, und richtig, als sie erwachten, lagen sie am gewünschten Orte, worauf jeder hurtig seiner Heimat zueilte.
Dorothee beteuerte zum Schlusse nochmals: „Ja, das hat mein Vater vieltausendmal erzählt, und die Geschichte ist gewiss so wahr, wie das Lichtlein neben mir brennt!“
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Stutz, S. 69, um 1806 erzählt. Präambel von K. W. Glättli. Unter der Türkei verstand man früher im Oberland die unbekannte Fremde, der man misstrauisch gegenüberstand. Dass sogar ein zürcherischer Pfarrer in der Richtung nach Basel in die Türkei hineingerät, empfinden wir heute mehr schwankhaft als sagenhaft. Vgl. HwbdA. 5, 1591, „Mantelfahrt“.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.