Wo der Turtmanngletscher an sonnigen Tagen blinkt und gleisst, als ob er pures Silber wäre, stand früher die schönste und grösste Alp des Hochtales, die Blümlisalp. In der Hütte lebte ein glückliches Sennenpaar mit seinem Töchterlein, das in aller Sorgfalt erzogen wurde. Die Tochter tat den Eltern zu Gefallen, was sie nur konnte, und als sie gross geworden, gedachte sie zu heiraten, damit die Eltern an ihrem Schwiegersohne eine wackere Stütze bekämen. Da die Eltern sehr vermöglich waren, fehlte es der Tochter nicht an Werbern. Sie wählte sich den flottesten der jungen Männer aus, ohne darauf zu sehen, ob er auch zu ihr passe und sie glücklich machen könne.
Das junge Paar bezog eine Hütte, die der Vater eigens gezimmert hatte, und nun lebten sie einige Jahre im schönsten Frieden. Bald aber kamen die Jahre, von denen man wünscht, dass sie nie kommen möchten. Die Mutter starb, und der Vater war alt, gebrechlich und blind geworden. Der Schwiegersohn hatte kein Herz für den alten Mann, schob ihn überall bei Seite, gab ihm nur knapp zu essen und wünschte ihn unter den Boden.
Da liess der Vater aus dem Rhonetal eine junge, kräftige Magd kommen, namens Kathrin, zog sich in seine Hütte zurück und lebte nun ganz für sich. Aber da wurde es erst recht schlimm. Der junge Ehemann bekam bald mehr Gefallen an der Magd, als an seiner Frau, die immer treu zum Vater hielt, ihn in Schutz nahm und ihm heimlich manchen guten Bissen zusteckte. Er behandelte die Kathrin mit der ausgesuchtesten Zärtlichkeit, wurde immer höflicher mit ihr, und mit seiner Frau immer gröber und unfreundlicher.
Der Magd stieg die Bevorzugung durch den Sennen zu Kopf; sie behandelte den alten Vater wie ein Tier, strich ihm Kuhmist statt Butter aufs Brot und drohte ihm mit Stockschlägen, wenn er sich bei der Tochter beklage. Der Hund Rein, den sie mit heraufgebracht hatte, erhielt bessere Kost und Pflege, als der blinde Vater. Dieser wollte die Magd fortjagen und ihr den Lohn entziehen, aber sie lachte ihn nur aus und blieb, da der Schwiegersohn sie entschädigte und es ihr an nichts fehlen liess.
Eines Tages verabredeten der Senne und die Magd Kathrin, den alten Nichtsnutz, wie sie ihn nannten, um jeden Preis los zu werden.
In einer schrecklichen Gewitternacht ging der Senne in die Hütte des Vaters, weckte ihn und befahl ihm, hinauszugehen und das Vieh einzutreiben. Er dachte, der Vater werde im Sturmwetter irgendwo zu Tode stürzen oder liegen bleiben und erfrieren. Der blinde Mann gehorchte, griff zum Stabe und tappte in die stürmische Nacht hinaus. Die Tochter aber erbarmte sich ihres Vaters, verliess das Haus und ihren Mann und begleitete den wankenden Greis. Sie erreichten bald die Herde, die unter den Tannen und Felsblöcken Schutz gesucht hatte, konnten aber im Sturme den Weg zu den Hütten nicht mehr zurückfinden. Sie liefen immer zu, getrieben vom Unwetter, die Herde folgte ihnen, und sie entfernten sich immer mehr von der Blümlisalp. Die Alp haben sie nie mehr gesehen, weder die Hütten, noch den Sennen, noch die Magd Kathrin und den Hund. In derselben Nacht ist alles unter den herunterstürzenden Eismassen begraben worden.
Wenn im Frühjahr die Bäche schwellen und die Turtmännin wild daherbraust, sieht man den Hund an den Ufern unstät hin und her laufen, und aus den Eisspalten des Turtmanngletschers, der die Blümlisalp zugedeckt hat, tönt es bald kläglich, bald wimmernd und heulend:
«Ich, min Hund Ryn und min Buhl Kathrin', Müssen ewig und ewig z’Blu"mlisalpen syn!»
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.