Der Zauberfelsen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Drei Stunden oberhalb Spitzegg ragt ein kahler Felskopf aus dem Braun der Alpwiesen. Das ist der Klammsprung, von dem die Leute sagen, dass er sich am Weihnachtstage beim Glockenschlag der Mitternachtsstunde spalte und demjenigen, der eintrete, die herrlichsten Schätze zeige, die er sich nur wünschen möge. Doch müsse man sich wohl merken, beim letzten Glockenschlag wieder draussen zu sein, um nicht vom Fels, der sich sofort wieder schliesse, zerdrückt zu werden.

Der Spitzegger Klaus hatte schon in seiner Jugendzeit von diesem Felsen gehört, aber wenn er sich recht erinnerte, waren alle, die es versucht hatten hineinzukommen, auf sonderbare Weise dabei ums Leben gekommen. Klaus hatte diesen Felsen nie aus den Augen gelassen, und da sein ganzes Sinnen und Trachten darauf ausging, möglichst rasch reich zu werden, nahm er sich vor, bei der nächsten Christmesse sein Glück zu versuchen.

Als Weihnachten heranrückte, lag der Schnee haushoch in den Gründen. Klaus holte den Bergstock und die Steigeisen hervor, machte sich am heiligen Abend bei Einbruch der Dunkelheit auf und stieg durch den hartgefrorenen Schnee empor. «Man muss nur danach trachten, rechtzeitig wieder herauszukommen, mit dem letzten Glockenschlag», murmelte er für sich, «da will ich doch sehen, was denn da Schwieriges dabei sein sollte!»

Kurz vor Mitternacht erreichte er über der Waldgrenze den sonderbaren, aus grauem Kalk sich aufbauenden Felskopf, der im Sommer von den Hirten gemieden wird, weil jede Kuh, die dort weidet, stirbt. Auch wächst in den Runsen und Spalten die seltene weisse Alpenrose in unzähligen Exemplaren, die aber niemand zu pflücken wagt, aus Furcht, in kurzer Frist sterben zu müssen.

Die Turmglocke im Dörfchen unten schlug zwölf Uhr. Hell klangen die vier Vorschläge durch die stille Winternacht, und ein heimliches Bangen beschlich den frierenden Mann. Sollte er nicht lieber umkehren! Aber da rauschte es schon über seinem Kopf wie vom mächtigen Flügelschlag eines Geiers, und ein unterirdisches Beben und Krachen setzte den Boden unter seinen Füssen ins Schwanken. Seine Haare sträubten sich und durch den Leib lief ein leises Zittern. Doch sieh da! Der Berg hatte sich gespalten, weit geöffnet, und ein heller Schein leuchtete ihm entgegen. Da lagen vor ihm ausgebreitet die schönsten Schätze, wie sie nur ein Herz wünschen kann. Hohe Stösse seidener Hals- und Schnupftücher in prächtigen Farben fielen ihm besonders in die Augen. Er stürzte sich darauf und hatte im Nu die Taschen der Rockschösse gefüllt, und als er verschnaufen wollte, bemerkte er nebenan aufgetürmtes Silbergeschirr. Wie zu Hause die Holzscheiter, lagen hier durcheinander silberne Messer, Gabeln und Löffel, Schaumkellen zum Abrahmen der Milch, Teller und Kannen, Hämmer und Nägel. Schnell leerte er die vollen Taschen und schob das klirrende Werkzeug hinein. Es war doch gut, dass er den Sonntagsrock mit den lang herabhängenden Schössen angezogen hatte, in die er recht viel hineinstopfen konnte. Ihm schwindelte fast ob all dem Glanz und dem Reichtum. Der reichste Fürst Europas hätte sich hier als Bettler gefühlt. Plötzlich sah er aber einen goldenen Schimmer, der ihm das Blut in die Schläfen jagte. An den Silberberg reihte sich ein Goldberg, so gross wie sein Haus im Dorf, der aus lauter funkelnden Goldstücken bestand. Blitzschnell fuhren seine Hände hinein, wühlten drin herum und fuhren ebenso schnell zu den Taschen, aber da war kein Platz mehr. Keuchend vor Hast schleuderte er die silbernen Löffel und Gabeln weg und füllte die leer gewordenen Taschen mit Goldvögelchen. Die Schwere des Rockes zog ihn hinunter, und er musste eilen, denn schon vernahm er ein fürchterliches Krachen. Rasch noch eine Hand voll und noch eine, dann warf er sich gegen den Ausgang und schnellte mit einem Sprung, der seine Kräfte fast überstieg, in den Schnee hinaus. Es war die höchste Zeit gewesen. Der Fels war mit Donnerknall hinter ihm zugeklappt und hatte die im Sprung nach hinten geschlenkerten Rockflügel mit dem köstlichen Inhalt erfasst und klapp, wie mit einer Schere, weggeschnitten.

Drei entsetzliche Schläge, dann war es totenstill. Der Fels starrte kalt und stumm wie vorher gegen den Nachthimmel, und keine Spur deutete auf die sonderbare Höhle. Wie Glühaugen leuchteten die Fenster der Dorfkirche herauf, in der jetzt die Mitternachtsmesse gelesen wurde. Klaus wischte sich den Angstschweiss von der Stirne und trabte, wie von Gespenstern verfolgt, in rasendem Laufe bergab nach Hause. Mit zerschlagenen Gliedern sank er ins Bett und fieberte die ganze Nacht hindurch. Am Morgen waren seine Haare gebleicht, die Wangen totenblass und der Atem ging schwer. Am Abend war er eine Leiche.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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