Der böse Senne

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Nanzertal oben ist eine kleine, aber schöne Alp, die heute noch zu den besten des Vispertales zählt. Dort wohnten der Senne und der Hirte den Sommer über in derselben Hütte. Der Hirte war ein anständiger Bursche von guten Sitten, der Senne aber ein gottloser, arbeitsscheuer Mensch, der den Buben auslachte, wenn er sein Gebet sprechen wollte und ihn den ganzen Tag herumjagte. Just weil er einsah, dass der Bub mehr taugte als er, mochte er ihn nicht leiden, und wenn er ihm etwas aufmutzen und ihn über die Zeit hinaus mit Arbeit quälen konnte, so war es ihm grad recht. Als sie Ende Julivon der untern Staffel, die völlig abgeweidet war, in die obere hinaufstiegen, legte der Senne vorher den Melkstuhl auf den Tisch und tat nachher, als ob er ihn unten vergessen hätte. Als die Hütte in der obern Staffel wohnlich eingerichtet, das Wasser in den Brunnentrog geleitet war, und der Hirte sich todmüde auf das Bett legen wollte, befahl ihm der Senne, in die untere Staffel hinabzusteigen und den Melkstuhl zu holen. Es war in später Abendstunde, und der Bub fürchtete sich, doch er musste gehorchen. «Noch diese Nacht gehst du — oder», und er wies ihm drohend die Faust.

Der Bub erhob sich vom Strohsack, glitt ohne ein Wort zu sagen, zur Tür hinaus und ging die Alp hinunter zu den unteren Hütten, wo er eine halbe Stunde später anlangte. Er suchte den Melkstuhl und fand ihn auf dem Tisch in der Stube. Da es nun stockfinster war, wagte er nicht mehr, auf die obere Alp zu steigen. Er dachte, er könne hier ebenso gut schlafen und werde schon sorgen, dass er am Morgen zeitig oben sei. Er ordnete das Stroh auf dem Lager und legte sich schlafen. Er hatte noch nicht lange geschlummert, als die Tür mit einem heftigen Ruck aufflog. Er erwachte und sah, wie eine ganze Schar von Sennen und Sennerinnen hereintrat. Alle waren altmodisch gekleidet, die Männer in Kniehosen und Schwalbenschwänzen, die Sennerinnen in kurzen, bunten Röcken, Ellbogenärmeln und dem hohen steifen Walliserhut. Sie schalteten und walteten, als ob sie hier zu Hause wären, fachten die Glut an, setzten den Kessel über das Feuer, trugen in Eimern Milch herein, als ob sie im Stalle draussen gemolken hätten, kochten die Milch und trafen die Vorbereitungen zum Käsen. Auf einmal brachten ihrer zwei eine Kuh herein, die sie schlachteten, stückweise in den Kessel warfen und sotten. «Die arme Graui», murmelte der Hirte, denn er hatte das Tier sofort erkannt, und es wurde ihm unheimlich. Als nun eine der sonderbaren Gestalten an sein Bett herantrat und ihn fragte, ob er nicht auch zu trinken begehre, wurde ihm ganz übel vor Schreck, und der kalte Angstschweiss floss ihm über die Stirne. Er schüttelte den Kopf und glotzte den Mann voller Entsetzen an. Aber der Geist sagte, er müsse trinken, wolle er nun oder nicht. - Was er vorziehe, vergorene, verfluchte oder rechte Milch. Da sagte er ganz leise: «So gebt mir rechte Milch», denn er hatte heute abend nichts Warmes genossen. Da setzte ihm der Mann eine hölzerne Schale vor, die er in einem Zug austrank. Die Milch schmeckte honigsüss und gab ihm Kraft und Mut, und nun fühlte er sich munter und tapfer, und das Treiben der sonderbaren, nächtlichen Gesellschaft interessierte ihn. Da näherte sich wieder einer dem Bette mit einem Stück gekochten Fleisches, das er eben aus dem Kessel gezogen hatte und ihm hinstreckte. Der Hirt dachte, wenn alles gefressen sein müsse, so mache er auch mit und schnitt sich ein Stücklein davon ab. Doch an feste Kost war er nicht gewöhnt, und das Fleisch schmeckte ihm weniger gut als die Milch, obwohl gar herrliche Düfte aus dem Kessel stiegen. Als die Kuh verzehrt war, wurden die Knochen in die Haut geworfen, diese zusammen gebündelt und hinausgetragen, und nun begann die Gesellschaft zu den Tönen einer Fiedel zu tanzen und mit silberhellen Stimmen zu singen, so dass dem Hirten ganz wohl ums Herz wurde und er das Schreckliche seiner Lage vergass. So schöne Lieder hatte er noch nie gehört; da waren Stimmen dabei, die schöner und weicher klangen als die des Lehrers und des Pfarrers und all der Chorsänger in der Dorfkirche unten. Auf einmal trat die ganze Sängerschar vor sein Bett, und eine der lustigsten Sennerinnen fragte ihn, ob ihm das Singen gefalle. Der Bub, der sich längst erhoben hatte, sagte ganz freudig gestimmt: «Ja, ja, gar sehr!» Ob er es auch lernen möchte. «Ja, ja!» —— Da verschwand der ganze Spuk.

Die Hütte war wieder leer wie zuvor, Kessel und Milchgeschirr hingen an ihrem Platz an der Wand, und durch das Fenster blickte der grauende Morgen. Der Bub dachte, er habe geträumt, da er keine Spur von dem sehen konnte, was sich kurz vorher hier zugetragen hatte; der Kessel glänzte so hell, als ob er ihn erst geputzt hätte, und auf dem Boden war kein Tröpflein Wasser und kein Tröpflein Milch verschüttet. Er ergriff den Melkstuhl und schritt bergan zur obern Staffel. Dort lag der Senne noch im tiefen Schlafe. Der Hirte schaute sich um, und als die ersten Sonnenstrahlen die Bergspitzen trafen, die Schneefelder aufleuchteten und von dem würzigen, stark betauten Alpkraut ein süsser Duft aufstieg, da wurde ihm weich und wohlig ums Herz, dass er singen musste. Und er sang, schöner als Bergfink und Amsel, und seine glockenreine Stimme schmetterte, dass der Senne erwachte, den Kopf zur Tür hinausstreckte und gar verwundert fragte, wer ihn so schön singen gelehrt habe. Da trat der Hirte in die Hütte, stellte den Melkstuhl auf den Boden, setzte sich darauf und erzählte mit leuchtenden Augen, was er in der Nacht alles gesehen und gehört, und wie man ihn das Singen gelehrt habe. Zuerst habe er geglaubt, er hätte nur geträumt, aber jetzt sei er sicher, das alles erlebt zu haben. - Dann ging er zur Herde, und beim Melken bemerkte er eine Kuh, die hinkte; das war die Graui, die man in der Nacht getötet und verzehrt hatte. Es fehlte ihr just das Stücklein Fleisch, das er gegessen, und nun war er froh, nicht mehr genossen zu haben, denn umso schneller musste die Wunde heilen. Er kraute ihr am Hals und fing wieder an zu jodeln und zu jubilieren, dass der Senne mit offenem Munde lauschte und ihn die Eifersucht packte. Warum sollte er nicht ebenso schön, vielleicht noch schöner singen lernen! Er brauchte sich ja nur in die untere Staffel zu begeben und dort eine Nacht zuzubringen. - Grad heute Nacht schon wollte er es tun.

Als der Hirte zur Ruhe gegangen war, schloss der Senne die Tür leise auf und stieg in die Staffel hinunter. Von dort ist er nie mehr zurückgekehrt. Lange hat man ihn gesucht, aber nirgends gefunden. Nur einmal sah man Kleiderfetzen an einem struppigen Fichtenast und fand in der Nähe den zerknüll ten Hut des Sennen, und des Nachts hörte man während vielen Jahren ein grässliches Gejammer und Stöhnen, wie wenn einer mit Ruten gepeitscht und schrecklich zugerichtet würde.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)