Die Hexenfamilie
Der Grossvater des Jakob Senn im Leimenacher im Fischenthal hatte sein Stammhaus mehrere Jahrzehnte einer Familie vermietet, von der man sagte, sie könne mehr als Brot essen. Man hiess sie geradezu die Hexenfamilie. Sie bestand aus Vater, Mutter und vier wunderhübschen Töchtern. Hans Senn, ein Onkel des besagten Jakob Senn, verliebte sich in Margritli, eine der Hexen. Die Eltern aber verboten dem Hans den Verkehr mit den Hexenleuten und das Betreten jenes Hauses und begründeten dies mit den Worten: Die Hexen sind nach Männern höchst begierig, weil sie nur dann selig sterben können, wenn sie im Ehestand Mutter geworden sind, und wenn sie womöglich ihren letzten Atemzug in des Mannes Mund aushauchen können.
Hans aber konnte nicht aufhören, die Hexe zu lieben, und weil er sie nicht gern haben durfte vor den Eltern, so tat er’s heimlich. Aber er kriegte den Lohn für seinen Ungehorsam. Er bekam die Schwindsucht und starb. Der obgenannte Grossvater hätte gerne die Hexenfamilie aus seinem Hause gehabt, wagte es aber nicht, sie zu vertreiben. Er versprach aber einem jungen, kräftigen Nachbarn, das Haus ein Jahr lang zinslos bewohnen zu dürfen, wenn er das Hexenvolk aus dem Hause brächte. Der Nachbar säuberte richtig das Haus, aber die älteste Hexenjungfrau, welche er gewaltsam hinausstiess, sagte ihm lächelnd unter der Türe: „Kaspar, es kann dir im weiten Haus noch zu eng werden!“ Tatsächlich starb dieser Kaspar einige Jahre darauf an Engbrüstigkeit.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Senn Jakob, Ein Kind des Volkes, hg. von Otto Sutermeister, Bern 1888, S. 10-12. Es ist in der Erzählung nicht ausgedrückt, aber wohl gemeint, dass die Hexe den Burschen mit Liebeszauber an sich gekettet habe. Senn ist in seinen Formulierungen sehr vorsichtig, wenn es um Aberglauben oder um für ihn unwahrscheinliche Begebenheiten geht.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.