Nahe beim Fuss eines Berges, am Rande eines dichten schwarzen Waldes, lebte eine Witwe mit ihrem Sohne. Weit drüben, auf der andern Seite des Waldes stand ein Wirtshaus, wo niemand einkehrte als die Säumerkarawanen, die jede Woche einmal hier anhielten und Pferde wechselten. Die Witwe schätzte eine gute Erziehung höher als totes Kapital; deshalb sandte sie ihren Sohn schon früh in die Welt hinaus, damit er die hohen Schulen besuche und die fremden Sprachen lerne. Der Bub, der nur ungern von seinem alternden Mütterchen schied, gehorchte und reiste über die Berge an die welschen Universitäten, wo er durch Fleiss, Sparsamkeit und Lerneifer vergalt, was sie für ihn auslegen musste. Wenn er nach Hause in die Ferien kam, erzählte er der Mutter, was er Schönes und Hässliches, Interessantes und Eigenartiges gesehen in den fremden Landen, und welche Fortschritte er in den fremden Sprachen, besonders im Italienischen, gemacht habe.
Einst, als eben erst die Ferien angefangen hatten und der Knabe wieder zu Hause war, erschienen zwei fremde Kapuziner und baten die Mutter, den Sohn mitzugeben, damit er ihnen den Weg zum Wirtshaus drüben über dem Wald zeige. Es war beim Eindunkeln, und der Bub fürchtete sich vor den Männern mit den bösen Gesichtern, die gar nicht wie fromme Brüder dreinschauten und wollte nicht mitgehen. Die Mutter aber sprach ihm zu, man dürfe nicht unhöflich sein gegen Fremde, und wenn sie etwas Böses im Schilde führen sollten, so werde ihn der Schutzpatron behüten. Da sagte der Bub nichts mehr, gehorchte, ergriff den Stock und schritt den Fremden voran. Sie sprachen welsch, und der Bub tat, als ob er keine Silbe verstände. In Wirklichkeit erfasste er jedes Wort, und da er sonderbare Dinge zu hören bekam, lauschte er auf alles, was sie sprachen. Die beiden vermeintlichen Kapuziner waren das, wonach sie ausschauten; sie gehörten zu einer Räuberbande, die in der Nacht das Waldwirtshaus überfallen und ausplündern wollte.
Als sie zum schmalen Bachsteg gelangten, sagte der eine der Räuber zum andern: «So, jetzt lassen wir das Bürschlein vorangehen, und wenn es mitten auf dem Steg ist, stossen wir es in den Bach, damit es uns nicht verrate, denn wer weiss, ob es nicht italienisch versteht!» Der andere war damit einverstanden und gab dem Buben das Zeichen, voranzugehen. Der aber sagte, er müsse jetzt nach Hause, da es schon spät sei und die Mutter ihn nötig habe, und wandte ihnen den Rücken, ohne eine Antwort abzuwarten. Als ihn die Kapuziner nicht mehr sehen konnten, verdoppelte er die Schritte und lief so schnell ihn die Füsse trugen, heim zu der Mutter, der er alles erzählte, was er vernommen hatte. Die Mutter erbleichte und sagte, man müsse die Wirtsleute warnen, aber wie? Den Sohn wollte sie nicht nochmals auf die weite Reise schicken; sie selbst war zu gebrechlich, und in der ganzen Runde war niemand, den sie hätte schicken können. Da hörte sie droben im Schlag das Täubchen girren und richtig, das weisse Täubchen, das ihr die Wirtsleute vor einigen Tagen geschenkt hatten, und das sie noch im Schlage eingesperrt hielt, das sollte der warnende Bote sein.Der Bub musste schnell zu Papier bringen, was er alles erfahren, und in welcher Gefahr sie sich befänden; dann holte er die Taube, band ihr das Brieflein um den Hals und liess sie frei. Wie ein Pfeil schwirrte sie davon und verschwand über dem Wald in der Richtung zum Wirtshaus, so weit man sie in der Dunkelheit noch verfolgen konnte.
Die Wirtsleute genossen eben das Abendbrot, lachten und plauderten, als es ans Fenster pickte. Auf einmal riefen die Kinder: «Ei seht, da kommt das weisse Täubchen!» Die Eltern öffneten das Fenster, gewahrten den Brief am Hals der Taube, banden ihn' los und lasen ihn. Da stand es drin: «Es werden bald zwei Kapuziner an eure Türe klopfen. Das sind aber keine Kapuziner, sondern verkappte Räuber. Ich habe sie bis zum Bachsteg geleitet und alles verstanden, was sie zusammen verabredet haben. Sobald alles schläft in eurem Haus, wollen sie ein Licht vor das Fenster stellen und den Genossen pfeifen, die draussen im Wald auf das Zeichen warten. Diese werden sich heranschleichen, euer Haus ausrauben und euch ermorden!» Der Wirt faltete den Brief, ging mit raschen Schritten zur Tür hinaus und rief die Knechte in die Stube. Dort las er ihnen den Brief vor, teilte Waffen aus, Pistolen, Gewehre und Säbel, und stellte die Knechte auf ihre Posten; zwei behielt er zurucük. Eine Stunde später erschienen die Kapuziner. Man hiess sie in die Stube treten, wo sie sofort gepackt und gefesselt wurden. Sobald die tiefe Nacht hereingebrochen war, stellte der Wirt das Licht vor das Fenster, blies in die Pfeife der Kapuziner, und nun eilten die Räuber herbei in ihr Verderben. Sie wurden alle gefesselt oder niedergemacht.
Die Wirtsleute waren gerettet und vergassen nicht, der guten Frau über dem Wald und ihrem braven Sohn zu danken und den Dank zu bekräftigen mit einem Pferd und den zwei schönsten Rindern, die im Stalle standen.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.