Der Klostervorsteher Evo hatte einmal nach dem Mittagessen grosse Lust, spazieren zu gehen. Die Bäume trugen das erste Laub, und die Sonne schien so hell in das düstere Refektorium hinein, dass die alten Zinnkrüge auf dem Tische funkelten und helle Ringlein an die Wand warfen. Er setzte das Käpplein auf, wanderte ein Stück weit in den Wald hinein und erfreute sich am jungen Grün, dem Summen und Schwirren der Insekten und dem lachenden Sonnenschein. Er wurde aber bald so müde, dass er sich ins Moos niedersetzte und einem Vöglein lauschte, das gar herrlich sang auf dem Baum. Ob all dem Lauschen fielen ihm die Augen zu, und er schlief fest ein.
Als er erwachte, glaubte er etwas länger geschlafen zu haben als sonst. Er rieb sich die Augen, guckte herum, sah grünes Laub, hörte die Vögel zwitschern und machte sich auf den Heimweg. Als er das Kloster erblickte, sperrte er die Augen auf und kniff sich in die Arme, um zu sehen, ob er wache oder träume. Er glaubte, sich verirrt zu haben, und doch kannte er den Weg nur zu genau. Das Klostergebäude sah ganz anders aus als vor einer Stunde; die weissen Mauern waren grau und alt geworden, von den Wänden fiel der Mörtel, die schweren, plumpen Steinblöcke auf dem Dache waren entfernt, und die Schindeln hatten einer roten Ziegelbedachung Platz gemacht, wie er sie noch nie gesehen. Die Tannen im Garten waren hoch aufgeschossen, und statt des wackeligen Palisadenzaunes bemerkte er eine hohe, feste Mauer. Entweder waren seine Augen schwach und trübe geworden, oder ein böser Geist zauberte ihm Trugbilder vor das Gesicht. Er läutete an der Pforte, und bald kam der Pförtner mit einem mächtigen Schlüsselbund an der Seite herangehumpelt. Das war ein Mann, den er in seinem Leben noch nie gesehen hatte, und der doch tat, als ob er hier zu Hause wäre. Pater Evo fuhr ihn an, wer ihn hier angestellt habe. Der Pförtner machte ein verdutztes Gesicht ob der sonderbaren Rede, dann platzte er los und lachte laut auf: «Da stellst du eine schöne Frage an mich, fremder Bruder; solange ich die Mönchskutte trage, bin ich hier ein- und ausgegangen, und das sind nun schon in die vierzig Jahre, aber du gehörst ja zu einem andern Kloster!» «Was?» brauste Pater Evo auf, erbost über das dumme Lachen, «ich bin der Prior des Klosters und vor einer Stunde hinausgegangen in den Wald, um ein Mittagsschläfchen zu halten!» Da schüttelte der Pförtner den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um, liess den fremden Prior stehen, nahm mit drei Sätzen die Treppe, dass der Schlüsselbund klirrte, stürmte hinein zum Prior und meldete pustend, es stehe jemand draussen, der so und so aussehe und behaupte, Prior dieses Klosters zu sein. «Hätte er nicht unser heiliges Gewand getragen, ich hätte ihm ins Gesicht gesagt, er sei . . .» und er wies mit dem Finger nach der Stirne.
Der Prior sah bedächtig über die Brille weg und brummte: «So, so, wir wollen sehen!» Er versammelte die Klosterherren im Refektorium und liess den fremden Mönch hereinholen. Als Evo auf einem Stuhle Platz genommen hatte, fragte der Prior die Versammelten, ob jemand diesen Bruder kenne. Alle schüttelten die Köpfe. Pater Evo machte ein bedenkliches Gesicht, denn an keinen dieser Brüder konnte er sich entsinnen. Er griff an die Stirne und wusste sich diese grosse Veränderung gar nicht zu erklären. Er kam sich vor wie in einem Zauberland, wo in einer einzigen Stunde alles umgewandelt wird. Der Prior fragte ihn, wie er heisse, und als er den Namen «Evo» hörte, erinnerte er sich, in der Klosterschrift einmal gelesen zu haben, dass vor langer Zeit ein Prior mit diesem Namen verloren gegangen sei. Er liess die alte Chronik holen, und als er eine Weile in dem ehrwürdigen, nach Staub und Moder riechenden Buche geblättert hatte, fand er den Namen «Evo» beim Jahr 1209. Pater Evo hatte 308 Jahre im Walde geschlafen.
Als dieser das hörte, sank er lautlos zusammen und zerfiel zu Staub und Asche.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.