Der Pfarrer im Sternenberg und sein Kind
Vetter Kaspar erzählte dem zwölfjährigen Jakob Stutz im Frühling 1813 aus dem Sternenberg folgende Geschichte:
Der vorherige Pfarrer sei ein Jäger gewesen und wohne jetzt dort in jenem Haus am Walde auf der Matt in einem kleinen Stübli. Auch seien zwei von dessen Töchtern im Sternenberg verheiratet, die eine habe einen Kohlenbrenner zum Mann und die andere einen Scherer. Der Pfarrer habe aber ganz entsetzlich gewütet und gebalgt, als die Jungfer Tochter gesagt habe, sie wolle den Köhler zum Manne haben, der eben sehr arm, aber ein Jüngling gewesen sei wie Milch und Blut. Deswegen habe ihn die Tochter durchaus haben wollen und alle Drohungen und Züchtigungen seien umsonst gewesen.
Endlich habe der Pfarrer sich gestellt, als ob er die Verbindung gerne zugeben wolle, und der Köhler habe, wenigstens bei Tage, freien Zutritt ins Haus gehabt, habe sogar den Pfarrer auf die Jagd begleiten dürfen. Da, einmal ausgehenden Frühlings, habe der Pfarrer gesagt, er wolle eine Lustreise mit ihnen machen. Beide haben sich höchlich gefreut und seien dann eines Morgens früh ins Tal hinuntergestiegen, wo eine Kutsche auf sie gewartet habe. Da seien sie fröhlich eingestiegen und lustig weitergefahren, ohne eigentlich bestimmt zu wissen, wohin; der Pfarrer habe nur gesagt, sie reisen nach Deutschland hinaus. Drei Tage seien sie schon gereist und durch viele Städte und Dörfer gekommen. Am Abend des vierten Tages habe sie der Pfarrer in ein hohes Schloss geführt, wo sie von einem Oberst oder General freundlich empfangen worden seien. Beim Schlafengehen habe eine Magd den Köhler hoch hinauf in ein Zimmer geführt. Und dann habe sie leise gesagt, sie müsse ihm aus Mitleiden etwas mitteilen, ihn aber um Gottes und aller Heiligen willen bitten, er solle sie doch nicht verraten; sie wolle ihm hiermit nur sagen, er sei verkauft unter die Garde des Königs von Preussen, weil er ein grosser, wohlgewachsener Bursche sei. Da sei der Köhler fast ohnmächtig geworden, und er habe um es Jüngsten Gerichtes willen angehalten, sie solle ihm und seiner Braut doch zur Flucht verhelfen Ihm habe sie es endlich versprochen, aber für die Jungfer könne sie nichts tun denn sie schlafe unten bei einem der Fräulein.
Um Mitternacht habe die Magd ihn durch einen heimlichen Gang aus dem Schlosse geführt. Nun sei er davongelaufen wie ein Leu. Aber kaum sei er eine Stunde weit weggewesen, habe er hinter sich Hunde bellen gehört und gemerkt, dass seine Flucht entdeckt sei und dass man ihn verfolge. Da sei er seitwärts von der Strasse ab nach einem Walde gesprungen, sei zu einem tiefen Bach gekommen, hinunter gegangen und habe sich da im Gebüsche bis an den Hals ins Wasser gestellt. Nach wenigen Minuten seien da vier grosse Spürhunde herangesprungen‚ dann ein Herr und der Pfarrer selbst, beide zu Pferde. Die Hunde haben mehrmals in das Erlen- und Weidengebüsch hineingebellt und der Pfarrer sei wie rasend hineingeritten. Aber zu allem Glück haben sie den Köhler nicht entdeckt, seien umgekehrt und haben sich nach einer anderen Gegend gewendet. Erst als es Nacht geworden, habe sich der Köhler aus dem Versteck gewagt und sei fortgelaufen bis am Morgen, sei dann auf einem einsamen Bauernhof eingekehrt und habe sich zur Weiterreise gestärkt und gerüstet.
Aber wie wunderbar es habe zugehen müssen! Am achten Tage abends seien, ohne dass eines vom anderen etwas gewusst habe, der Köhler und des Pfarrer Tochter beim mittleren Junkernhaus in Kempten ganz unvermutet wieder zusammengekommen, denn die Jungfer habe sich fast gleichzeitig auch flüchten können. Da seien sie einander um den Hals gefallen und haben geweint, haben sich dann aufgemacht, den Bergen zu, seien zu einer Base des Köhlers‚ einer armen Witfrau im Äberliswald, einem ganz einsamen Haus ob dem Kohltobel, gegangen und haben um Gottes willen angehalten, sie soll sie auch in ihrem Haus verbergen, damit sie vor den Nachstellungen des Pfarrers sicher wären.
Die Frau habe sich ihrer erbarmt und beide aufgenommen. Der Pfarrer sei indessen auch wieder nach Hause gekommen, habe den Vater des Köhlers ins Pfarrhaus beschieden und denselben bei Gott und Gewissen angefragt, ob er nichts von seinem Sohne wisse. Der Vater habe hoch und teuer bezeugt, er wisse, so Gott lebe, nichts von ihm, als dass er mit dem Herrn Pfarrer eine Lustreise gemacht habe. Auf das hin habe ihn der Pfarrer entlassen.
Aber nach etlichen Tagen sei die Witfrau eines Morgens totenbleich in die Stube getreten und habe gejammert: „Um Gottes willen, verberget, rettet euch, der Pfarrer kommt mit seinem Knecht den Berg herunter und schlägt den Weg nach unserer Hütte ein. Sehet, er trägt sein Jagdrohr an der Schulter. Jesus, wenn ihr verraten wäret!“ Alle drei seien in Furcht und Angst geraten und die Frau habe sie nicht anders zu verbergen gewusst, als dass sie hurtig einige Bretter vom Tennboden weggehoben und sie geheissen, hinunter zu steigen. Dann habe sie weidlich wieder zugedeckt und einige Reiswellen darüber hingelegt.
Richtig sei der Pfarrer gekommen und habe die Frau furchtbar angeschnauzt, sie müsse ihm auf der Stelle seine Tochter herausgeben oder er schiesse sie sogleich nieder. Die Frau habe gezittert und geschworen, sie wisse nichts von des Herrn Pfarrers Tochter. Aber das Leben sie ihr doch auch lieb gewesen, sie habe endlich die Verborgenen entdecken müssen. Der Knecht habe die Bretter weggehoben, und gleich habe der Pfarrer gezielt, um den Köhler niederzuschiessen. In diesem Augenblick aber sei die Witfrau zugesprungen, habe dem Pfarrer das Rohr aus der Hand gerissen und gerufen, er solle sie umbringen, dem Köhler und der Jungfer lasse sie nichts geschehen. Im nämlichen Augenblick aber seien die Liebenden dem erzürnten Vater zu Füssen gefallen, haben ihn mit heissen Tränen und um des Jüngsten Gerichtes willen gebeten, er möchte einmal aufhören, sie zu verfolgen. Gott habe sie zusammengeführt, und darum solle er sie nicht scheiden.
Da sei dem Pfarrer sein Herz so weich geworden wie Wachs, er habe sich zu den Bittenden niedergebeugt, sie an seine Brust gezogen und geweint wie ein Kind, habe nur ein paar Worte sagen können: „Kinder, jetzt ist’s genug!“ Dann habe er beide nach Hause geführt und nach vierzehn Tagen ihnen die Hochzeit verkündet.
Nicht weit vom Hörnli, in einer tiefen Schlucht, in einem niedrigen Schindelhäuslein musste die vornehme Pfarrerstochter daheim sein. Es hat ihr dort nicht lange behagt. Denn da musste sie statt Suppe und Fleisch nur Erdäpfel und Mehlbrühe essen, täglich dreimal, musste Baumwolle spinnen wie andere arme Weiber und durfte nicht spazieren gehen. Es habe sich recht komisch ausgenommen, wenn sie so in einem feinen Damastkleid, einer weissen Haube und spitzigen Schuhen beim Spinnrad gesessen sei und ungeschickt gesponnen habe.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Stutz, S. 146. — Besonders im 18. Jh. wurden die Wälder der Tössberglandschaft stark reduziert durch das Kohlenbrennen. Vgl. Kaspar Keller, Chelleländer Ard und Brüüch, S. 83.
Das Edelfräulein als Köhlersfrau
Die Köhlersleute, von denen in der vorhergehenden Geschichte die Rede ist, hatten Kinder. Nach vielen Jahren hat ihr ältester Sohn, der ein gar hübscher Jüngling und auch Kohlenbrenner gewesen, fast das gleiche Schicksal erlebt wie sein Vater.
Er brannte einmal beim Schloss Breitenlandenberg Kohlen - und da habe er des Schlossherrn, der ein Junker Werdmüller gewesen sei, einzige Tochter zur Frau bekommen. Die musste auch in den Sternenberg ziehen, Erdäpfel und Mehlbrühe essen und sich eine einem Damastkleid fast zutode spinnen. Aber der Sohn war mit einer solchen Frau so wenig glücklich als der Vater mit der Pfarrerstochter. Die ganze Haushaltung war und blieb mausarm.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Leicht umstilisiert nach Stutz, S. 149.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.