Grössis
In früheren Zeiten bestand das Dörfchen Isikon nur aus zwei Bauernhöfen, von denen der eine einer Familie Stutz, der andere einer Familie Furrer gehörte. Die Familie Stutz zählte zwölf Söhne, und der jüngste unter ihnen war an Gestalt ein wahrer Riese, fast noch grösser als Goliath. Dieser Kerl nannte auch eine gewaltige Körperkraft sein eigen. Einmal luden die Brüder ihm sieben Pflüge auf die Schulter, aber er trug sie davon, als ob es eine Bürde Stroh gewesen wäre. Wie es oft geschieht, hielt der Vater auf diesen mit Kraft ausgestatteten Sohn einen besonderen Stolz, dass er ihm mehr galt als die andern elf. Deswegen foppten diese ihren grossen Bruder, neckten und plagten ihn. Der Riese war ein gutmütiger Kerl und liess sie hänseln. Wenn er gewollt hätte, so wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die andern alle beim Wickel zu nehmen. Der Streit war ihm aber zuwider, und als es die Brüder immer toller toller trieben, langte er den Wanderstecken hinter dem Kasten hervor und zog ins Schwabenland hinaus.
Dort fand er bald einen redlichen Verdienst und heiratete auch eine Frau, die ihn freute. Und weil es ihm gut ging, gedachte er bei den Schwabe zu bleiben. In jenen Jahren aber zog der schwarze Tod über das Schweizerland und fand auch den Weg auf die Hügel an der Töss. Auch in Isikon forderte er grossen Tribut. Im Friedhof lagen schon zehr Brüder des starken Stutz samt ihren Weibern und Kindern. Der zweitjüngste dieser Brüder weilte damals in fremden Diensten gegen den grausamen Türk und war so von der Pest verschont geblieben. Just da kam er in seine Heimat zurück, als man den zehnten seiner Brüder in die Grube senkte. Abe‘ schon am übernächsten Tage lag er neben ihm in der kühlen Erde. Er hatte einen Nagel in die Wand geschlagen, um seinen roten Mantel dran aufzuhängen. Da war der Peststaub aus den morschen Brettern gedrungen und hatte ihn vergiftet.
Traurig machte sich nun Vater Stutz auf den Weg, seinen Jüngsten zu suchen im Schwabenland draussen. Und er fand ihn wirklich. Mit Weib und Kind zog dieser in sein Vaterhaus zurück und übernahm das väterliche Erbe. Er wurde der Stammvater des Geschlechtes der Stutz von Isikon. Weil aber jener Stutz von nicht alltäglicher Körpergrösse war, nannte man ihn „de Gross“, und seine Nachkommen waren langen Zeit unter dem Zunamen „s Grössis“ bekannt.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Mit unbedeutenden Änderungen aus Stutz, S. 13; A. Heer, Heimatkunde von Hittnau, Zürich 1905, S. 41. Heer hat die Nachricht aus dem Jahrbuch Pfäfffikon Nr. 2, S. 47. VB 27.10.1916
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.