Der Türst
An der Halde des Stoffels wohnte in uralten Zeiten ein gewaltiger und wilder Jäger, den man Türst nannte. Er fürchtete weder Tiere noch Menschen noch das Wetter. Am liebsten ging er auf die Jagd, wenn der Wind recht durch die Baumgrötzen pfiff und man keinen Hund hinaus geschickt hätte. Er aber lockte dann seine Wolfshunde herbei und ritt mit seinem pfeilschnellen Pferde durch Wald und Feld, über Tobel und Berge. Die Pfeile, die er verschoss, trafen ihr Ziel immer.
So regierte er am Stoffelberge herum und störte seinem Nachbarn, dem Ritter von Werdegg, die Jagd empfindlich. Die fettesten Böcke holte er ihm vor der Nase weg. Der Herr von Werdegg schaute diesem Treiben eine Weile zu, denn er kannte die Gewalt des Türst. Dann mahnte er ihn. Der Türst kehrte sich nicht daran. Der Werdegger drohte ihm. Der Türst lachte darüber. Da schaffte sich der Ritter zwölf böse, blutgierige Hunde an und gedachte, mit diesen dem Türst das Handwerk zu legen.
Kurz nachher trafen sich die beiden auf der Jagd. Der Türst hatte eben dem Werdegger ein schönes Tier fast unter den Händen weggestohlen. In seiner Wut hetzte der Ritter seine zwölf Hunde gegen ihn. Diese erschraken jedoch vor dem wilden Blick des Jägers so, dass der Türst einem nach dem andern den Hals umdrehen konnte. Der unheimliche Mann warf seine Beute auf die Schulter und liess den verblüfften Burgherrn stehen. Der schäumte vor Zorn und trollte sich heim.
Des andern Morgens, als der Ritter auf seiner Zinne Rachepläne ausheckte, ertönte nicht weit von der Burg des Türsts grosses Jagdhorn. Der Herr besann sich auf seine Ritterwürde und würgte die unbändige Wut hinunter. Mit Güte wollte er versuchen, den Frechling in seine Schranken zu bannen. Er rief daher den Türst herbei, bot ihm die Oberjägerstelle in seinem Burgbann an und versprach ihm guten Lohn. In ebenso freundlichem Tone erwiderte der Angeredete, das wäre ja ganz schön, aber seine Altvorderen seien freie Leute gewesen, und das wolle er bleiben. Zwar liesse sich über diesen Fall reden, wenn der Herr Ritter ihm die Tochter zur Frau gäbe. Da schoss diesem das Blut in den Kopf, und er brachte vor Wut kein Wort heraus. Der Türst aber ritt lachend von dannen. Fortan wurde das schöne Ritterfräulein Adelheid von Werdegg von Morgen bis Abend ständig von Schlossknechten bewacht. Dass in der Nacht auch etwas geschehen könnte, hatte der besorgte Vater keinen Augenblick gedacht. Auch war er in der Weiber Llsten gar wenig erfahren.
So hatte er nicht die geringste Ahnung, dass seine Tochter Adelheid dem Türst schon gar manche Nacht das Hintertürchen geöffnet hatte. Himmel und Hölle hätte er zusammengeflucht, wenn er erfahren, dass die beiden einig waren, sich nimmer zu verlassen. Da er aber vom Türst selber gehört hatte, dass dieser seine Tochter Adelheid zur Frau begehre, wollte er sie möglichst schnell an einen andern Mann verheiraten, der auch um sie angehalten hatte. Dieser andere war der Ritter von Gündisau.
Adelheid verriet aber dem Türst bei seinem nächsten nächtlichen Besuch des Vaters Absicht. Der Riese säumte nicht lange und entführte seine Geliebte noch in selbiger Nacht in sein festes Haus auf dem Stalden. Beim ersten Hahnenschrei des folgenden Tages stieg er zur Burg Werdegg hinab, weckte mit seinem Horn den Ritter und schrie mit Donnerstimme an sein Fenster hinauf, dass er seine Tochter als Frau begehre. Und als der Werdegger ihm höhnisch antworten wollte, erklärte der riesige Jäger frank, er hätte sie ja schon, es brauche nur noch des Vaters Segen.
Auf das antwortete der wutentbrannte Burgherr, er werde ihm einen schicken, der sie dem Vater wohl wieder zurückbringen möge. Also sandte er nach Gündisau, und fuchsteufelswild galoppierte der bestohlene Liebhaber nach dem Stalden, um den Türst zum Zweikampf herauszufordern. Im Vorbeiweg riss er an der Linde im Burghofe zu Werdegg ein Zweiglein ab und steckte es auf seinen Helm. Er hatte die prahlerische Absicht, dieses Reislein dort in den Boden zu pflanzen, wo der Türst sein Leben aushauchen wurde.
Der Türst liess nicht auf sich warten und erschien mit seinem gewaltigen Schwert vor seinem Hause. Adelheid lächelte ihm von der Laube herunter hold zu. Das bemerkte der Gündisauer und hieb auf seinen Widersacher ein, dass die Funken stoben. Allein der Türst blieb ihm nichts schuldig, und seine Hiebe widerhallten im Walde. Aber das war nur das Vorspiel. Als der Türst seines Gegners nicht allzugrosse Kraft erprobt hatte, zog er zu seinem gewaltigen Streiche aus und schlug dem Gündisauer den Kopf vom Rumpfe, dass der Leib zu Tale rollte. Den Kopf aber samt den Zweiglein vergrub der furchtlose Kämpe vor seinem Hause.
Nach diesem grausamen Zwischenspiele gab der Ritter von Werdegg nach. Der Türst bekam Adelheid zur Frau und wurde durch sie zu einem braven Manne. Nicht weit von seiner Heimstatt bauten seine Nachfahren das Dörfchen Dürstelen. Vor seinem Hause aber wuchs des Gündisauers Zweiglein zu einer riesigen Linde heran. Jedermann in weiter Umgebung kannte die Dürsteler Linde und ihre sonderbare Geschichte. Im Jahre 1865 zündeten unvorsichtige Burschen in ihrem hohl gewordenen Stamme ein Feuer an, welches den Baum zugrunde richtete.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Heer, S. 56
Heer hatte die Sage aus dem Jahrbuch Pfäffikon Nr. 2, wo sie auf den Seiten 185 - 188 aufgezeichnet ist. Sie wurde 1881 von B. Bockhorn eingetragen. Nach einer geographisch-geschichtlichen Einführung beginnt die Sage hier so: „Vor uralter Zeit lebte an der Halde des Stoffels ein riesengrosser und schöngestalteter Mann, der ein Abkömmlich des einstigen Riesengeschlechts war und Dürst genannt wurde. Dieser wäre eine gewandter und kühner Jäger…“ usw. Bockhorn weist darauf hin, dass die Sage als „ein uraltes Volkslied“ überliefert sei und erzählt auch einen Teil davon in dessen hergebrachten Zweizeilern. - Die Burg gehörte lange Zeit den Rittern von Landenberg-Werdegg (vgl. H. Kläui, Zürcher Taschenbuch 1958), wechselte oft den Besitzer und wurde, als Herdegen von Hinwil sie besass, 1444 zerstört. Zwischen Werdegg und Dürstelen stand besage Linde auf einem Bergvorsprung. An Stelle des abgegangenen Baumes wurden aus Schossen des alten drei neue gepflanzt. - Vgl. Rochholz, Naturmythen, „Der wilde Jäger im Jura“, S. 34 - 73.
And die „Dürsteler Linde“ knüpft sich folgender Schwank an, den Kaligraph Rüegg im Jahrbuch Pfäffikon Nr. 1, S. 62 (1877) erzählt:
Ein Bewohner zwischen der „Länge“ und Pfäffikon hatte seine Auserkorene tief in einem Seitentälchen des Fischenthals und machte den Kiltgang jeden Samstagabend. Bei seinen Besuchen fand er, dass sein künftiger Schwiegervater ihm wahrscheinlich eine schöne Aussteuer geben werde, denn derselbe besass vier Ziegen, hatte bloss 15 Gulden Zins und Land, Holz und Staudenbörter fast so gross wird er Kanton Zug. Als die Braut nicht mehr länge warten wollte, machte er seinen Schwiegervater auf die Aussteuer aufmerksam. Bald darauf erhielt er einen Brief: er könne selbige abholen. Der Pfiffiger nahm seine grösste Turbenchrääze (Rückenkorb zum Torftransport) und wanderte voll freudiger Hoffnungen ins Fischenthal. - Wie es näher zugegangen weiss ich nicht mehr; nur das weiss ich noch, dass der Hochzeiter mit seiner Aussteuer in der Chrääze nach vierstündigem Marsch zum ersten Male bei der Linde zu Dürsteten geruht haben soll.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.