Im Berner Oberland war ein Mann am Heuen. Als er sich einmal nach dem Wetter umschaute, stand plötzlich ein Zwerg neben ihm und bat ihn um eine Handvoll Heu. Der Bauer sah ihn verwundert an – er war nicht grösser als ein Büblein – und erwiderte dann: «Was du in einer Bürde tragen magst, kannst du haben.» Der Zwerg schien mit diesem Bescheid zufrieden, ging in die Scheune und bald flog Heu aus dem Dachgiebel heraus wie Regen. Es hörte nicht auf‚ bis auch der letzte Halm draussen lag. Der Bauer traute seinen Augen nicht, als er sah, wie der Zwerg alles Heu in eine Bürde zusammenband und diese davontragen wollte. «Halt, du Schelm!» rief er jetzt, «so war es nicht gemeint. Wenn du alles Heu mitnimmst, wie sollen denn ich und mein Vieh durch den Winter kommen?» Der Zwerg jedoch antwortete ruhig: «Lass es gut sein. Wenn all dein Heu verbraucht ist, so gib mir Bescheid.» Damit verschwand er.
Ein harter Winter zog ins Land und schon kurz nach Neujahr war alles Heu aufgebraucht. Der Bauer wusste sich kaum mehr zu helfen. Wie er nun eines Tages sorgenvoll auf dem leeren Heuboden hin- und herging, erschien im Balkenwerk plötzlich der Zwerg und sagte: «Vertraue mir dein Vieh nur an. Du aber gehst jeden Tag in den Stall und machst deine Arbeit wie immer. Und du musst versprechen, die ganze Zeit nicht zu schimpfen und nicht zu fluchen.» Damit war der Mann einverstanden. Der Zwerg trieb die ganze Herde auf und davon. Der Bauer sah ihnen mit langen Blicken nach. Ob er seine Kühe wohl jemals wieder sah?
Er tat jedoch seine Arbeit wie abgemacht. Freilich schien sie ihm im leeren Stall so ganz und gar sinnlos. Er konnte kaum den Frühling erwarten. Und eines Tages verlor er die Geduld und fing laut zu fluchen an. Kaum waren ihm die Worte entschlüpft, meinte er, die Glocke seiner Leitkuh zu hören. Schnell sprang er zum Giebelboden und spähte durch die Luke hinaus. Der Glockenton schien von ganz nah zu kommen.
Und jetzt kamen seine Kühe am nahen Waldrand zum Vorschein, rund und fett, und neben jeder trabte ein Kälbchen. Auf dem hintersten Tier sass der Zwerg. Als nun der Zug beim Stall eintraf, sprang der kleine Reiter zu Boden, drohte dem Bauer mit dem Finger und rief: «Hätt’st dein Versprechen gehalten, hätt’ ich das Vieh noch länger behalten.» Damit war er auch schon verschwunden.
Quelle: H. Hartmann, Berner Oberland in Sage und Geschichte, Interlaken 2010.