Der Dreifingerstein
Wenn man von der Alp auf dem Rossberg den steilen Bergpfad zur Hohen Rohne hinaufsteigt, wo die drei Kantone Zürich, Schwyz und Zug zusammenstossen, kommt man bei einem mächtigen Granitblock vorbei, der in der Umgebung unter dem Namen Dreifingerstein bekannt ist. Bei näherer Betrachtung rechtfertigt sich diese sonderbare Benennung dadurch, dass man oben Vertiefungen wahrnimmt, die so aussehen, als ob sie durch das Hineinstecken eines Daumens, eines Zeig- und Mittelfingers entstanden wären. Vom Ursprung dieser Löcher erzählt die Volksage Folgendes:
Ein reicher und habsüchtiger Senn machte nach dem Hinschiede des Besitzers auf Alp und Wald ungerechten Anspruch. Seine Forderung geschah auf Kosten der Kinder des Verstorbenen, die durch den Verlust dieser Grundstücke arme Waisen geworden wären. Falsche Verschreibungen und Dokumente unterstützten die Ansprüche des Betrügers; die armen Kinder hatten nichts als ihr inneres, gutes Recht. Es kam zum richterlichen Augenschein und zum Eidschwur. Der Bösewicht leistete ihn mit aufgehobenen Schwörfingern auf der Höhe des Felsens, laut und frech. Weh dir, rief ihm der Richter zu, wenn du einen falschen Eid getan!
Da stiess der Mann auf dem Felsen die ärgsten Beteuerungen aus, wie ihn der Teufel holen solle, wenn er die Unwahrheit beschworen: „So wenig als ich meine Schwörfinger in diesen harten Stein tauchen mag, so wenig habe ich einen falschen Eid getan“, so rief er aus. Und damit setzte er in grausiger Vermessenheit die Finger auf den Stein, als ob er dieselben hineindrücken wollte. Und siehe, der Felsen gab nach wie weicher Schnee, und die drei Schwörfinger begruben sich darin bis ans hinterste Gelenk. Entsetzt wollte er sie alsbald zurückziehen; sie waren aber festgewachsen, und all sein Mühen und die Arbeit anderer fruchteten nichts; Gott hatte gerichtet und der Fälscher bekannte sein Verbrechen vor allen Anwesenden. Und nachdem er gebeichtet, erbebte die Erde, die Föhrenzweige rauschten schauerlich und aus dem Walde fuhr unter Blitz und Donner eine schwarze Wolke. Diese umhüllte ihn, und ein lautes Geschrei erhob sich in derselben; dann zerteilte sie sich und zerfloss in der Luft. Der Verbrecher aber lag entseelt auf dem Granitstein. *)
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Wörtlich aus Stauber, S. 48.
*) Der Stein liegt im Grenzbereich, wo der Kanton Zürich an die Kantone Schwyz und Zug grenzt. Am Südrand der Gemeinde Hütten auf dem steilen Bergpfad gegen den Höhronen.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.