Der Schatz auf Alt-Wädenswil
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die alte, feste Burg zu Wädenswil abgetragen; nur ein einziger Turm trotzte noch lange dem Zahn der Zeit, wie ein ernster Wächter über die Kronen der Waldbäume in die lieblichen Gefilde hinunterblickend. In diesem Gemäuer hat einst ein armer Holzhacker ein wunderbares Schicksal erlebt, aber auch seine Lust nach Reichtum schwer gebüsst. Er war ein fleissiger Mann, der bei Arbeit und Sparsamkeit gesund und rüstig geblieben; weder er selbst noch sein treues Weib fühlten sich in ihrer Armut unglücklich.
Als er einmal in der Nähe des alten Turmes arbeitete, hörte er in demselben ein ungewöhnliches Geräusch und neugierig kletterte er hinauf, um durch eine Schiessscharte den inneren Raum übersehen zu können. Mit welch freudiger Überraschung schaute er das Wunder, das sich ihm erschloss; denn zwei Zwerglein in langen, grauen Gewändern, mit silberweissen, bis zum Gürtel reichenden Bärten schleppten aus einer ihm unsichtbaren Türe silberne und goldene Becher und Gefässe, schimmernden Schmuck und seltene Münzen daher, gleichsam um den in Nacht und Dunkelheit verborgenen Schätzen wieder einmal die Wohltat des lieben Sonnenscheins angedeihen zu lassen. Sprachlos starrte der geblendete Mann in das helle Gefunkel hinein, unbemerkt von den Zwergen, die in gesprächiger Geschäftigkeit walteten; aber ihr Verbündeter, ein Rabe, hatte den unberufenen Lauscher entdeckt und kündete ihn mit heiserem Gekrächze an, worauf unbegreiflich schnell der ganze Spuk verschwand. Nur das Knarren einer Türe verriet, dass der Schatz im Turm selbst liegen müsse. Aber umsonst suchte der genarrte Mann während drei langen Tagen die Spur einer Spalte oder Pforte; das Gemäuer schien so einsam wie immer und schon ergab er sich mit grollender
Unlust darin, ferner arm zu bleiben bis die Versuchung ihm in Gestalt eines fahrenden Schülers sich nahte. Wie wenn der sonderbare Jüngling in sein Herz sehen würde, redete er ihm von den Reichtümern, die hier unbenützt unter ihren Füssen lägen und fachte so die kaum entschlummerte Habsucht zur hellen Flamme an. Endlich versprach er dem begehrlichen Manne, ihm zur Hebung des Schatzes behilflich sein zu wollen und beschied ihn auf die Mittagsstunde in die Ruine Unter wunderlichen Gebärden und schaurigen Beschwörungen machte er den Erstaunten auf eine kleine Pforte aufmerksam, die bis jetzt seiner eifrigsten Nachforschung entgangen war, gab ihm eine Wünschelrute und wies ihn an, ohne umzublicken oder etwas zu berühren, durch das Pförtlein bis zu den Schätzen hinzudringen, dort dreimal wacker zuzugreifen, aber, wenn ihm Leib und Leben lieb sei, kein lautes Worte zu sprechen. Auf den ersten Schlag mit der Rute sprang die Türe knarrend auf, und der Holzhacker befand sich einem geräumigen, von feuchten Moderdufte erfüllten Gemache; doch brauchte er seine ganze Herzhaftigkeit, um nicht umzukehren; denn ein ganzes Heer von Schlangen und anderem Getier unheimlicher Art umlagert seine Füsse, während hässliche Fledermäuse ihm den Weg zu einer zweiten Türe zu versperren schienen. Mutig machte er sich den Bahn und nach einem wiederholten Schlage öffnete sich auch diese Pforte; aber wie ganz anders sah es hier aus. Auf weichen Polstern lag eine leibliche Frauengestalt, die ihm mit anmutigen Gebärden einen Becher köstlichen Weines anbot. Zum Glücke schwieg das Zauberwesen und die tiefe Stille des in zartem Rosenglanz strahlenden Gewölbes schloss dem Betroffenen den Mund, so dass er, zu sich kommend, ohne umzublicken standhaft an dem Weibe vorbei einer Flügeltüre zuschritt, die ihm die höchsten Schätze zu bergen versprach. Er hatte sich nicht geirrt; dann als auf den dritten Schlag die Türflügel wichen, breitete sich in blendender Pracht der ungeheure Schatz vor seinen Blicken aus; hier standen reich mit Edelsteinen geschmückte Gefässe ohne Zahl; dort lachte ihm aus den geöffneten Truhen der herrlichste Schmuck entgegen; ganze Kisten voll blanker Gold und Silberstücke luden zum Zugreifen ein; alle diese Herrlichkeiten leuchteten strahlend das hohe Gemach, als ob tausend Kerzen ihren Glanz verbreiteten. Aber o weh! Der Anblick dieser Kostbarkeiten überwältigte den Glücklichen und es entfloh seinen Lippen der Freudenruf: „Herr Gott, wie viel!“ Im nämlichen Augenblick verschwand alles in tiefe Finsternis und von einer heulenden Windsbraut erfasst, ward der Unselige emporgehoben und erst am späten Abend kehrten seine Sinne wieder. An Leib und Seele zerschlagen, fand er sich einsam in dem alten Gemäuer; doch als er sich nach und nach des Geschehenen erinnerte, verging ihm auf immer die Habgier nach Reichtum.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Wörtlich aus Stauber, S. 46, mit dem Verweis auf das Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft 1924, S. 121
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.