Auf den Alpen des Sarganserlandes, hauptsächlich in den obersten Sässen derselben, wird nachstehendes Ave Maria gebetet, welches unzweifelhaft aus einer Zeit herstammt, da in unsern Gebirgen noch allenthalben Bären, Wölfe, Luchse und dergleichen hausten und da man sogar noch den Spuk eines Lindwurms oder Drachen befürchtete.
Die Alpknechte getrauen sich nicht, dieses Gebet auch nur einen einzigen Abend zu unterlassen. Der Senn oder einer seiner Gehilfen tritt, den Hut und den Hirtenstab in der Hand, vor die Alphütte auf eine Anhöhe und ruft mit lauter Stimme in die Nacht hinaus:
Ave Maria!
Bhüt's Gott und unser lieb Herr Jesus Christ
Libei, Hab und Gut und alles, was hierum ist;
Bhüt's Gott und der lieb heilig St. Jöri,
Der wohl hier ufwache und höri.
Bhüt's Gott und der lieb heilig St. Marti,
Der wohl hier ufwache und warti,
B'hüt Gott und der lieb heilig St. Gall
Mit seinen Gottsheiligen all.
Bhüt's Gott und der lieb heilig St. Peter.
St. Peter, nimm die Schlüssel wohl in deine rechte Hand,
Bschliess wohl uf dem Bären seinen Gang,
Dem Wolf den Zahn, dem Luchs den Kräuel,
Dem Raben den Schnabel, dem Wurm den Schweif,
Dem Stein den Sprung!
Bhüt' üs Gott vor solcher böser Stund,
Dass solche Tierle mögen weder krätzen noch bissen,
Wohl so wenig, als die falschen Juden unsern lieben Herr Gott bschissen.
Bhüt's Gott alles hier in unserm Ring
Und die lieb Mutter Gottes mit ihrem Kind.
Bhüt's Gott alles hier in unserm Tal,
Allhier und überall.
Bhüt's Gott, und es walte Gott, und das tue der lieb Gott!"
"Ave Maria" und die Rufe an die Heiligen werden dreimal gesprochen.
I. Natsch
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 263, S. 142f
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.