Vor langer Zeit fiel einmal ein Mann in den Bergen in eine Schlucht hinab. Deren Wände waren so glatt und hoch, dass er nicht mehr herauskam, so sehr er sich auch bemühte. Verzweifelt suchte er nach einem anderen Ausweg und fand plötzlich einen Gang. Darin war es dunkel und Wasser tröpfelte die Wände herab. Vorsichtig tastete er sich weiter in den Berg hinein, da kam er in eine Höhle und darin sah er zwei Augen leuchten. Es war ein entsetzlicher Drache, der dort wohnte. Der Mann erschrak ganz furchtbar, doch das Tier tat ihm nichts, im Gegenteil: er zeigte ihm sogar, dass man das Wasser, das vom Berg tröpfelte aufschlecken konnte und dadurch satt wurde.
Der Mann lebte eine lange Zeit mit dem Drachen im Berg und mit der Zeit wurden sie Freunde. Nach vielen, vielen Jahren kroch der Drache aus dem Berg hinaus, erhob sich in der Schlucht in die Luft und wollte davonfliegen. Seinen langen Schwanz liess er dabei in die Höhle hinunter und wackelte damit, als wollte er sagen: „Steig auf und halte dich fest!“ Der Mann aber verstand die Drachensprache nicht und so flog der Drache allein davon. Nun kam dem Mann die Zeit allein nun doppelt so lang vor, er vermisste seinen Freund, obwohl es doch kein Mensch war, sondern ein Drache. Wie freute er sich, als er nach ein paar Tagen hörte, dass der Drache zurück kehrte!
Das nächste Mal, als der Drache davonfliegen wollte, hielt sich der Mann am Drachenschwanz fest und liess sich in die Luft ziehen. Hui, das ging aber schnell!Der Drache flog über das Dorf, wo der Mann früher gewohnt hatte und setzte ihn dort vorsichtig ab. Der Mann ging zu seinem Haus, aber dort wohnten Menschen, die er gar nicht kannte. Gemeinsam gingen sie zum Pfarrer, um ihn um Rat zu fragen. Dieser nahm ein altes Buch hervor und darin las er, dass vor 150 Jahren ein Mann in den Bergen verschwunden und nie zurückgekehrt sei. Alle staunten über diese Nachricht, am meisten der Mann selbst – hatte er wirklich so viele Jahre mit dem Drachen gelebt? Er sah an sich herunter und bemerkte seinen langen weissen Bart – uralt war er geworden. Der Mann erzählte den Menschen im Dorf von der Höhle und von seinem Freund, dem Drachen. Bald darauf starb er und nichts blieb von ihm übrig, ausser ein wenig Goldstaub., und das, so sagen die Leute, kam von dem Wasser, das er in der Höhle geschleckt hatte.
Fassung Djamila Jaenike, nach: Renward Brandstetter, „Renward Cysat“, Luzern 1909