Das Berner Änni
Im Hirzel vermutlich lebte einst eine Jungfer; man sagte ihr nur das Berner Änni. Diese stand im Rufe einer Hexe. Wenn sie von jemandem Milch bekam, so gaben sicher dessen Kühe anderntags rote Milch.
Nun wohnte in ihrem Dörflein ein netter junger Bursch. Dieser bekam an einer grossen Zehe plötzlich einen solchen erbärmlichen Schmerz, dass er wie rasend in der Stube umherhüpfte. Man wandte sich an den Arzt R. in T. Dieser gab verschiedene Mittel, aber umsonst. Eines Tages erschien er selbst beim Patienten. Die Erzählerin dieser Geschichte sah selbst, wie er das Gässlein heraufkam und sein Ross neben der Haustüre‚ wo der junge Karli wohnte, anband. Das Berner Änni wohnte nicht weit von dieser Tür, auf der anderen Seite der Gasse.
Der Doktor gab dem Karli ein Heilmittel, das sie geheim halten mussten. Auch sagte er, es sei das letzte, das er gebe. Es werde bald jemand kommen und etwas entlehnen wollen, erklärte er, aber die Leute sollen beileibe nichts hergeben, sonst helfe alles nichts. Darauf verabschiedete sich der Doktor und ritt das Gässlein hinab. Nicht lange hernach erschien das Berner Änni und wollte Salz entlehnen. Als es ihm aber abgeschlagen wurde, begehrte es etwas anderes und so fünferlei. Als es gar nichts kriegte, fing es laut an zu weinen und anzuhalten. Aber es musste leer heim. Unterdessen hatte der Doktor sein Pferd dem Vater des Patienten übergeben, welchen er auf dem Felde arbeitend fand. Er befahl ihm, das Tier nach U … H … zu fhren. Dann ging er wieder zurück zum Kranken.
Das Berner Änni, als es heimkam, setzte sich wieder zu seinem Spinnrad, tat vier oder fünf Züge, fiel plötzlich rückwärts über den Stuhl und war eine Leiche, just in dem Augenblick als der Doktor wieder zu seinem Patienten eintrat.
Ich vergesse es meiner Lebtag nicht, erklärte die Erzählerin, die dabei war, als man das Berner Änni zu Grabe tragen wollte. Da kam ein Hase die Wiese herunter, lief zwischen den Häusern durch und unter dem Sarge des Änni weg ins Weite. Nur zwei Männer gingen hinter dem Sarg her. Der Bursch aber wurde von Stund an wieder gesund und ist jetzt (vor 1859) Präsident.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
SAVk 2 (1898) 270.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.