Ein Jäger hatte sein liebes Zytgeissli, wie man die jungen Ziegen im Wallis nennt, verloren, und das tat ihm sehr leid. Er dachte, seine Ziege sei noch ein unerfahrenes Ding, und da die Nächte schon empfindlich kalt waren und die Alphütten verlassen, fürchtete er, es würde ihr nicht in den Sinn kommen, unter eine grosse Schirmtanne zu kriechen und sich am Fuss des Stammes in die dürren Nadeln einzugraben, und deshalb könnte das Tierchen in der kalten Nacht Schaden nehmen. Daher warf er schnell entschlossen die Büchse über die Schultern, pfiff seinem Hund und machte sich auf, das Zytgeissli zu suchen. Er wanderte bergauf und bergab bis tief in den Abend hinein, ohne eine Spur von dem Tier zu entdecken. Er stand noch hoch oben auf der Alp, als es schon völlig dunkel war, und da entschloss er sich, die Nacht in der Sennhütte zuzubringen und am nächsten Tag die Suche fortzusetzen. Er pfiff dem Hund, zog den Riegel zurück und trat in die Hütte. Holz war reichlich vorhanden, und so zündete er ein Feuer an und kochte sich etwas Warmes. Dann hing er die Büchse über die Holzpritsche an einen Nagel und legte sich nieder. Er musste immer an seinen Liebling denken und hegte schon die Befürchtung, er möchte zu Tode gefallen sein.
Er schlief noch nicht, als die Tür aufging und ein gespensterhaftes Männchen mit der vermissten Ziege auf dem Rücken hereintrampelte. Das Männchen fachte das Feuer wieder an, und nun konnte der Jäger zwei grüne Schlitzaugen unterscheiden, einen schwarzen verfilzten Bart und einen spitzen Hut von zweifelhafter Farbe. Der Jäger rührte sich nicht auf dem Stroh und schielte nur ab und zu nach der Büchse, die er im Notfall rasch zur Hand hatte. Am Fussende der Holzpritsche schlief der Hund, der nichts von dem Geisterspuk merkte. Das Männchen tat, als ob es hier zu Hause wäre, schlachtete die Ziege, briet das Fleisch am Feuer, ass und ass, kaute und schmatzte und hieb immer neue Stücke weg, bis nur noch der Knochen des Hinterschenkels übrig war. Das Männchen blickte öfters zum Jägersmann hinüber und fragte mehrmals: «Wilt auch, wilt auch?»
Den Jäger gelüstete es nicht nach dem sonderbaren Schmause, und er verhielt sich still, doch als er sah, dass der Missgestaltete alles verzehren wollte, sprang er auf und sagte: «Wenn denn alles gefressen sein muss, so will ich auch ein Stück davon!»
Er ergriff den Hinterschenkel und schnitt sich ein Stücklein davon ab, den Rest verschlang der Geist. Als alles verzehrt war, sammelte das Männchen die Knochen sorgsam in die Haut, band sie oben zusammen und schritt langsam gegen die Tür. Dort kehrte es sich um, warf einen bösen Blick zum Jägersmann, der wieder auf der Pritsche lag und kein Auge von dem Geist abwandte, und rief in gehässigem Tone:
«Hättst du hinet (heute Nacht) nit Fürheissli (die Büchse) und Hund Beissli, So welt i di lehren suchen Zytgeisslil!»
Damit schlug es die Tür zu und verschwand. Der Jäger nahm die Flinte vom Nagel, legte sie neben sich, drehte sich auf die Seite und schlief ein. Als er am Morgen erwachte, meckerte das Zytgeissli draussen. Er sprang vom Lager, schloss die Tür auf und fand vor der Hütte seine Ziege, die ihm die Hand leckte. Er freute sich sehr und stieg mit ihr talabwärts. Unterwegs bemerkte er, dass sie hinkte, und als er den Hinterfuss prüfte, fehlte ihr das Stück Fleisch, das er gegessen hatte. Nun war er froh, nur ein kleines Stücklein verzehrt zu haben, denn so wusste er, dass die Wunde bald heilen werde.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.