Der Fledermausstein
In der Nähe des Weilers Itschnach oberhalb Küsnacht am Zürichsee, befindet sich in einsamer Gegend eine Höhle, der Fledermausstein genannt. Eine Unzahl Fledermäuse, die drinnen hausen, rechtfertigt diese Bezeichnung. In uralter Zeit sollen saftige Weiden die Höhle umgeben haben. Das änderte sich aber, als ein gräulicher Drache im tiefsten Dunkel des Loches seine Wohnung bereitete. Aus dem sicheren Verstecke stürzte sich das Ungeheuer auf seine Opfer und drang, als es in der Umgebung seiner Wohnung öde geworden, in die Höfe und Dörfer hinab, ja sogar bis in die Nähe der Stadt. Vergebens lauerten ihm die Jäger auf, und umsonst veranstaltete man Prozessionen. Furchtlose Männer verrammelten dem Ungeheuer den Ausgang der Höhle. Es nützte alles nichts. Der Drache wusste einen verborgenen Nebenausgang und erschien mit doppelter Wut. Endlich beschloss ein frommer Ritter, dem Unwesen ein Ende zu machen. Nachdem er in einer Kapelle am Wege inbrünstig zur Heiligen Jungfrau gebetet hatte, drang er in den finstere Gang. Zehn Schritte vermochte er darin aufrecht zu gehen, dann wurde die Höhle enger, und der tapfere Mann konnte sich nur noch mühsam durchwinden. Eine geweihte Wachskerze, die er vor sich herschob, erhellte den Schluff notdürftig.
Plötzlich vernahm er ein dumpfes Schnauben; das Licht erlosch. Aber beim letzten Schimmer hatte er noch wahrgenommen, dass sein Haupt samt der rechten Hand, welche die Kerze hielt, in eine weite Grotte vorgedrungen war; der Leib steckte noch in dem engen Felsengrund. Zwei glühende Augen starrten ihn an, und ein blutroter Rachen öffnete sich.
Da rief der Ritter in höchster Not die Mutter Gottes an. Ein himmlischer Glanz erleuchtete plötzlich das Gewölbe. Auf einer rosenroten Wolke liess sich die Heilige Jungfrau zu dem winselnden Ungetüm nieder und kettete es mit diamantenen Banden an die Felswand. „Hier“, donnerte sie, „bleibe und schmachte bis zum jüngsten Tage!“ Zum Ritter gewendet sprach sie: „Dein Glaube hat dir geholfen, geh heim in Frieden! Darauf berührte sie ihn mit einem Lilienstengel; das Felsenloch erweiterte sich, und der Ritter konnte glücklich zurückkehren.
Noch in den achtziger Jahren des 19 Jahrhunderts vernahmen Bauern, die in der Weihnachtszeit in der Nähe des verrufenen Ortes Gestrüpp rodeten, Gestöhn und Kettengerassel des Drachens.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Nach Herzog I, Nr. 233, umstilisiert, jedoch ohne Motivverlust.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.