Der Schatz im Iserkirchlein
Über dem Weiler Goldbach, unweit Zürich, auf der nächstgelegenen Waldhöhe, findet sich in einem bedeutenden Umfang altes Gemäuer, dessen Ursprung und Bestimmung ebensowenig anzugeben ist als die Gestalt des Gebäudes, von welchem diese Trümmer noch Überbleibsel sind. Die Landleute nennen die Ruine „Iserkirchlein“, was den Gelehrten zum Glauben Anlass gegeben hat, dass hier zur Römerzeit ein Tempel, der Göttin Isis geweiht, gestanden habe.
Nach der Sage sind dort in unterirdischen Hallen ungeheure Schätze verborgen, die von Geistern beschützt werden. Tiefe Gruben, die sich im Bereiche der Trümmer finden, bedeuten, wie hier die Habsucht in stiller Nacht versucht hat, den geheimnisvollen Mächten ihr Besitztum zu entreissen, was jedoch bisher, soviel bekannt, fruchtlos geblieben ist. Manche dieser Habsüchtigen sind sogar weidlich geäfft worden, wovon folgendes Beispiel ein lustiger Beweis ist.
Ein reicher, geiziger Bauer aus der Nachbarschaft trug sich schon lange mit dem sehnlichen Verlangen nach dem leuchtenden Golde von welchem sein Vater und Grossvater ihm soviel erzählt hatten. Endlich erhielt er durch die fünfte oder sechste Hand, was er schon lange gesucht hatte: „Fausts Höllenzwang“, die kräftigste aller Bannformeln. Nicht um Mitternacht - hierzu hatte er nicht Mut genug -. sondern am hellen Mittag ging er hin und beschwor die Unterirdischen mit der lauten Stimme eines Mannes, der seine eigene Furcht überschreien will. Plötzlich steht ein langer, hagerer, erdfahler Mann in weitem, rotem Gewande neben ihm. „Du willst Geld, Armseliger“, sprach er zu dem Bebenden mit einer Stimme, die aus tiefem Gewölbe zu kommen schien, „folge mir!“ Und siehe, unter ihnen senkte sich der Boden, und Hans, welcher schrecklich schrie, wurde sanft in einem herrlichen Gemache abgesetzt, wo Gold- und Silberhaufen in Menge aufgeschichtet lagen. „Fülle den Sack, den du mitgenommen hast!“ befahl der Unbekannte. Hans liess sich das nicht zweimal sagen. Mit gieriger Hast füllte er den grossen Sack. Als es geschehen war, versiegelte die Erscheinung denselben eigenhändig mit ihrem Siegelring und gebot Hans bei Verlust seines Lebens, ihn erst nach drei Tagen und im Beisein seiner ganzen Familie zu öffnen. Der Bauer versprach das heilig und befand sich im Nu samt seinem Schatze wieder auf der Ruine, woselbst er aber nicht lange verweilte, sondern heimrannte, als ob der Kopf ihm brenne.
Am vierten Tage nach dieser Begebenheit war in Hansens Haus ein reges Leben. Er hatte zur Eröffnung seines Geldsackes nicht nur seine nächsten Verwandten, sondern auch alle Nachbarn und Freunde eingeladen und sich so weit in der Freude seines Herzens verstiegen, dass er zur Feier der Eröffnung einen köstlichen Kälberbraten dampfen liess. Nachdem er sein seltsames Abenteuer mit allerlei romantischen Zutaten erzählt hatte, schritt er mit grosser Feierlichkeit zur Entsiegelung, Öffnung und Leerung des Sackes. Aber o weh! Statt der erwarteten Goldstücke rollten lauter hohle Schneckenhäuschen auf den Tisch, und ein lautes Gelächter belohnte die Herzhaftigkeit des höllenbezwingenden Helden.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Wörtlich aus Corrodi, JZ 1951/52. S. 321, Nr 9 (mit dem Titel „Das Schneckengold“).
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.