Der Scharfrichter von Zürich
Vor langer Zeit wurde ein Scharfrichter in Zürich, der bis dahin schon 99mal seines Amtes gewaltet hatte, von einem Bekannten als Pate für sein TöchterIein erbeten. Beim Taufmahl stiess der Götti auf das Wohlergehen des TäufIings an und laut klang es von der Berührung der Gläser. Doch kurz hernach erscholl ein zweiter Klang: Das Richtschwert, das der Scharfrichter bei jedem Ausgang mit sich führte, brach unter dem Griff entzwei und fiel zu Boden. Der Pate erschrak, denn er betrachtete den Vorfall als eine Mahnung. dass sein Täufling die Zahl seiner Hinrichtungen auf 100 bringen und abschliessen werde. Er schweisste die beiden Teile des Schwertes zusammen, das nun lange Zeit unbenützt blieb. Achtzehn Jahre später musste der Scharfrichter wieder in den Wellenberg, um eine zum Tode verurteilte Tochter abzuholen. Es war sein Patenkind, das einem Verführer sich hingegeben und das neugeborene Kind in der Verzweiflung mit eigener Hand erwürgt hatte. Recht schwer fiel es dem greisen Mann, das junge Leben zu vernichten, das umsonst von den Richtern Gnade erflehte, und er wünschte, dass seinem Schwert von heute an die ewige Ruhe beschieden sein möge. Die Totenglocke erklang, und auf dem Rabenstein ?el das Haupt des Patenkindes. Des Henkers Wunsch ging in Erfüllung; er legte sich hin zum ewigen Schlaf; starr und stumm lag er am Morgen auf seinem Lager in den langen, weiss und blauen Mantel gehüllt.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Wörtlich nach Stauber, S. 43
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.