Der Gratzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Unter dem Gratzug versteht das Volk Wege, Strassen und Gänge im Gebirge, auf denen die Seelen der Verstorbenen in langen Zügen ganze Nächte durch wandern. An einigen Orten heissen diese Toten­prozessionen auch Volkgang oder Symphonie. Wer in einen solchen summenden und murmelnden Geisterzug hineingerät oder sich von einem solchen überraschen lässt, verfällt einer bösen Krankheit und muss oft wochen- und monatelang darunter leiden. Das Volk glaubt diese Gänge und Wege auch zu kennen. So heisst ein bekannter Gei­sterweg der Tschingelweg, der durch neunundneunzig Alpstaffel führt.

Die Geister erscheinen in den Kleidern, in denen sie zu Grabe getragen wurden, oder im Gewande, das zu ihrem Andenken den Wächtern oder den Armen der Gemeinde ausgeteilt worden ist. Ein Verstorbener, der nicht gut oder nur unvollständig bekleidet ins Grab gelegt wird, oder für den man nicht ein solches Gottgwand, wie diese Geschenke heissen, ausgeteilt hat, erscheint im Gratzug ebenso dürftig oder unvollständig bekleidet, also ohne Rock und Hut oder barfuss.

Im Vispertal hörte einst ein Mann, der einsam in seinem Häuschen schlief, ungefähr um elf Uhr nachts dreimal seinen Namen rufen, und die Stimme sagte, er solle aufstehen und hinaufsteigen ins Arischleif und die Lärchen, die er dort gefällt hatte, wegräumen, da­mit der Gratzug den Weg geöffnet finde. Er glaubte in der Stimme seinen verstorbenen Vater zu erkennen, gab schnell Bescheid und sagte, er werde so rasch als möglich hinaufgehen und das Hindernis beseitigen. Er kleidete sich an, stieg in langen Schritten den Weg haldan und machte sich an die Arbeit. Als er eben den letzten Baum vom Wege schleifte, hörte er wieder dieselbe Stimme: «Eile, eile und stelle dich rechts von dem Weg!»

Mit aller Kraft zog er an dem letzten Rundholz und setzte sich todmatt neben den Weg auf einen der Stämme. Da hörte er schon ein schwaches Brummeln und Summen, das immer näher kam und stärker wurde, als ob eine ganze Heerschar den Rosenkranz betete. Dazu wurde ein langsamer Totenmarsch getrommelt und gepfiffen. Dazwischen vernahm er allerlei Musik, die in den Felsen widerhallte, dann weinende und lachende Stimmen, ein wirres Rauschen und Flüstern. Ein warmer Windhauch wehte ihn an, und plötzlich fuhr ein Windstoss durch das Holz und trieb ihm die Haare zu Berge. So sehr er die Augen anstrengte, so unterschied er doch nichts als schwarze Schatten, die eilig an ihm vorüberhuschten. Als die Uhr am Kirchturm unten zwölf schlug, gewahrte er Gestalten, die zu zwei und zu vier, wie der Weg es eben erlaubte, vorüberzogen; die einen waren gut gekleidet, einige liefen barfuss, wieder andere schleppten mühsam zwei Röcke, eine Frau trug statt des Hutes eine schwere Butterballe auf dem Kopf, einem der Verstorbenen fehlte am weissen Kleide der Gürtel, so dass er das lose flatternde Gewand mit den Händen halten musste.

Als der Geisterzug vorüber war, schlug es im Dorf drei Uhr, und dann läutere das Betglöcklein. Drei lange Glockenstunden hatte der Gratzug gedauert.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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