Karl der Grosse und der Hirsch
Als Kaiser Karl, da er noch König war, einst von seiner königlichen Stadt Köln aus auf die Jagd geritten war . . ., stiess er auf einen grossen, schönen Hirsch, wie er in seinem Leben noch keinen gesehen hatte. Dem jagte er nach, in der Meinung, ihn zu fangen. Er verfolgte ihn so lange, dass er mit seinem Gesinde im Walde übernachten musste. Am folgenden Tage fand er den Hirsch wieder, aber der führte ihn den ganzen Tag durch Berg und Tal, und er kam dem König so manchmal zu Gesicht, dass dieser sich vornahm, nicht abzulassen, bis er den Hirsch stellen könne, koste es was es wolle.
Also jagte er diesem Hirsch nach, von Köln bis nach Zürich. Einen halben RossIauf ob dem Schloss Thurricum, jenseits des Wassers, dort wo . . . Felix, Regula und Exuperantius . . . begraben worden waren, fiel der Hirsch . . . auf die Knie; desgleichen taten auch die Hunde und wollten nicht weiter laufen. Dieses Wunder berichteten die Jäger dem König, der eilends: herbeiritt, um es zu sehen. Als die Pferde herzukamen, fielen sie auch auf die Knie, gleich wie Hirsch und Hunde auch getan. Da verstand der König wohl, . . . dass Gott ihm den Hirsch gesandt, weil er hier ein Wunder wirken wollte. Karl stieg von seinem Pferde und bat Gott, er möge ihm seinen Willen offenbaren.
Alsobald erschienen zwei Waldbrüder oder Einsiedler, welche in dieser Gegend wohnten; die sagten, dass da einige Heilige begraben lägen, die vormals um des christlichen Glaubens willen gemartert worden wären. Da nahm der Kaiser in Stadt und Schloss Thurricum, die ia gleich dabei lagen, Wohnung. Er berief alle Priester des Landes und berichtete ihnen das grosse Wunder, das ihm begegnet war. Er liess graben und die Märtyrer suchen. Nachdem sie gefunden worden, wurden sie zu hohen Ehren erhoben und heilig gesprochen. . . . Der Kaiser lies sie in ehrliche Särge und Gräber verschliessen. Felix und Regula wurden in die Abtei zum Fraumünster getragen, Exuperantius führte er . . . nach Aachen. wo er ehrlich bestattet wurde. Als Karl etliche Jahre später, nämlich im Jahre 760, das (Gross Münster baute, liess er die Heiligen wieder an die frühere Grabstätte tragen, und an St. Exuperantius Statt, brachte er die sterbliche Hülle des hl. Placidus.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Stadt Zürich und Zürichsee
Nach Brennwald I, 85, ins Neuhochdeutsche übertrage, sonst unverändert.
Von Brennwald weicht die Fassung des deutschen Pilgers Hans von Waltheim aus Halle an der Saale‚ die er 1474 in Zürich aufschrieb, in mehreren Motiven ab:
Eines Tages zog Kaiser Karl der Grosse in der Nähe von Zürich auf die Jagd. Da kam ein grosser Hirsch ihm auf die Bahn, den der Kaiser mit seinem Hofgesinde und vielen Hunden verfolgte und sehr bedrängte. Doch da trat der Hirsch in einem Walde bei Zürich auf eine Stelle, wo er sowohl vom Kaiser, seinem Gesinde und den Hunden nicht verfolgt und verletzt werden konnte. Dieser Vorgang erregte des Kaisers Verwunderung, der sich im Gebet an Gott wandte, der ihm auch offenbarte, dass der Hirsch auf der Grabstätte dreier Märtyrer stehe, die das Tier vor jeder Verletzung schützten und bewahrten. Nach würdiger Vorbereitung liess der Kaiser an dieser Stelle graben, wo er tatsächlich die Gebeine der drei Heiligen fand. Er liess an dieser Stelle eine grosse Kirche, das Gossmünster bauen, die heute noch in grossen Ehren steht. -
So dargestellt von Paul Guyer in der Wegleitung zur Ausstellung „Der Limmatraum im Wandel der Zeiten“, Zürich 1960
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.