Als die Wangser vor der Fahrt auf ihre Alp Gamidaur den Alpzaun ausbesserten, kam ein unbekannter, aber rüstig aussehender Mann zu ihnen und anerbot sich, für kommenden Sommer die Obliegenheiten eines Sennen unentgeltlich und klaglos zu besorgen. Sofern man mit seinen Leistungen nicht zufrieden sei, möge man ihn zu beliebiger Zeit von seiner Stelle abberufen. Die Alpgenossen nahmen dieses Anerbieten an.
Der neue Senn versprach, am Tage der Alpfahrt beim Alpgatter die Ankunft der Sente abzuwarten. Er hielt dann auch sein Wort getreulich, sennete vortrefflich und lebte in bestem Frieden mit seinen Mitknechten. In seinem Benehmen war nichts Befremdliches, als dass er weder mehr noch weniger redete als nötig war und dass er jedesmal nach dem Sennen unter der Kellertüre sein Beil wetzte, ohne es je zu gebrauchen. Im Herbste, bei der Heimfahrt, begleitete er den Zug bis zum Alpgatter und verabschiedete sich dort mit der Bemerkung: "Übers Jahr werde ich wieder kommen, wenn sich meine Mitknechte auch wieder in Gamidaur einstellen." So geschah es bis in das siebente Jahr. Während dieser langen Zeit hatte es noch keiner von den Knechten gewagt, den Sennen zu befragen, was sein Beilwetzen zu bedeuten habe. Er halte ihnen über unnütze Fragen nie eine Antwort gegeben. Mit der Zahl der Jahre war aber die gegenseitige Vertraulichkeit unter ihnen grösser geworden, so dass der Zusenn mit der langverhaltenen Frage herausrückte. Der Senn zeigte sich wider Erwarten erfreut hierüber und sprach: "Auf diese Frage habe ich schon lange mit Sehnsucht gewartet, und ich werde dir auch recht gerne den gewünschten Aufschluss erteilen, wenn du mir zum Schwarzsee hinauf folgst und dort tust, was ich dich heisse."
Der Zusenn erklärte sich zu allem bereit, wenn es ihm möglich sei, und alsobald zogen sie miteinander aus. Der See liegt in einem wilden Hochtälchen. Als die zwei Hirten in dessen Nähe angelangt waren, hörte man ein Tosen aus den Tiefen des Tälchens herauf, wie wenn ein Gewittersturm im Anzug wäre. Die schwarzen Wellen des Sees wuchsen von Minute zu Minute, spieen dann ihren weisslichen Gischt hoch an die Klippen des Ufers hin und warfen endlich auch einen gewaltigen Stier ans Land, der unverweilt und laut brüllend über die steile Halde gegen die Hirten heranstürmte. Jetzt überreichte der Senn seinem Begleiter das Beil und sprach: "Wenn du mir zur ewigen Seligkeit verhelfen willst, so schlage unter höchstens drei Streichen jener wütenden Bestie das vordere linke Bein ab. Es wird dir dabei kein Leid geschehen." Kaum hatte er dies gesprochen, war der Stier schon da und wollte über ihn herfallen. Dem kam aber der mutige Zusenn zuvor, indem er dem wutschnaubenden Tiere mit einem kräftigen Streiche das Bein abschlug. Der Stier kollerte zurück in den See, dessen Wogen sich dann augenblicklich legten.
Hierauf sagte der Senn zu seinem Kameraden: "Wisse, mein treuer, wackerer Geselle, vor mehr als Mannesgedenken bin ich schon Senn in Gamidaur gewesen. Da wurde ein Stier auf die Alp gebracht, der so böse war, dass selbst die Alpknechte sich seiner Angriffe kaum zu erwehren vermochten. An einem drückend heissen Sommertage waren wir mit dem Vieh hierher auf diese Höhe gezogen, wo beständig ein kalter Windzug herrschte. Am Abend wollten wir eintreiben, wobei der Stier sich ungebärdig benahm. Ich hatte mein frischgeschliffenes Beil mitgenommen und tat, was du heute wiederholtest. In Folge dieser unrechten Handlung konnte ich aber nach meinem bald hernach erfolgten Ableben keine Ruhe finden, bis du mich durch deine Treue und deinen aufopfernden Mut erlöstest. Dafür wirst auch du ein Kind der Seligkeit werden."
Nach diesen Worten war der Senn verschwunden. Eine weisse Taube flog über den See hin und dann gen Himmel auf.
I. Natsch.
Diese Sage scheint verschiedene Bestandteile aufzuweisen. Der Senne, der die unerlaubte Handlung begeht, findet auch anderorts die Ruhe nicht und büsst sein Vergehen. Der wilde Stier im Alpsee aber ist ein Ungeheuer, das schwerlich zur Herde gehört hat. Es findet sich auch in andern Bergseen, so am Pilatus.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 195, S. 92f
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.